Jüdische Herausforderungen an das Christus-Bekenntnis der Kirchen
Friedrich-Wilhelm Marquardt
Ich
möchte etwas sagen
1. zum historischen Jesus, dann
2. zum Christus, dann
3. zu Gott in Christus.
Doch zuvor etwas zum gegenwärtigen
christlich-jüdischen Verhältnis im Blick auf das
Medium Theologie.
Von einem Dialog in dem tiefen Sinne, in dem Martin Buber davon
gesprochen hatte - als einer Wesensbegegnung von Ich und Du - kann noch
lange nicht die Rede sein (auch nicht sechzig Jahre nach der
Pogromnacht, in deren Gedenken wir uns hier versammelt haben). Ich
kenne keine Juden, die uns tatsachlich theologisch
»herausforderten‹‹, wohl kenne ich
solche, mit denen zusammen sich öffentliche Bibel arbeiten
machen lassen. Ich kenne auch solche, mit denen wir Podiumsdiskussionen
führen können - zu historischen Fragen der Deutschen
und der christlichen Kirchen in Geschichte und Gegenwart, auch zu
prophetisch-politischen Themen der Gerechtigkeit, des Friedens, der
Bewahrung der Schöpfung, also zu gemeinsamen ethischen
Herausforderungen. Doch nicht zu im engeren Sinne theologisch
artikulierten Glaubensfragen wie z.B. der Messias frage, unserem
trinitarischen Gottesbekenntnis, der Frage der Freiheit oder Unfreiheit
des Willens, der Rechtfertigung aus Glauben oder Werken des Gesetzes,
der Erfüllung der Verheißungen und der Zeit. Im
Gegenteil: Hier beissen wir auf Granit, und das hängt nach
meiner Erfahrung damit zusammen, daß Juden die
jüdisch-christliche Beziehung nicht im geringsten als eine
theologische sehen, auch nicht sehen wollen. Sehr viele haben, mit
Verlaub gesagt, »die Nase voll« von jeder
theologischen Artikulation unseres Verhältnisses - ob dies nun
eine (wie so oft bisher) im Bösen oder (wie hoffentlich
künftig einmal) zum Besseren wäre. Bisher kennen sie
das Medium Theologie ja nur als vernichtend, und das nicht erst seit
der Nazizeit. Es war kein Zufall, daß schon Moses Mendelssohn
einer seiner Hauptschriften den Titel gab: »Jerusalem oder:
Über religiöse Macht und Judentum« (1783),
und er meinte damit die höchst ambivalente christliche
Kirchen-¬ und Staatsmacht des friderizianischen
Preußen. Und wenn 1905 Leo Baeck Adolf von Harnacks
»Wesen des Christentums« mit einem »Wesen
des Judentums« beantwortete, dann mehr als einmal in Gestalt
einer Macht- und Gewaltkritik: wohl auch am christlichen Dogmenglauben,
aber überhaupt daran, daß Christen die Beziehung zu
Gott sehr ausgeprägt als eine der wahren Lehre und viel
weniger ausgeprägt als eine der rechten Lebensführung
auffassen. Das ist freilich aus einem Geist des Liberalismus gedacht,
in dem auch bei uns Protestanten nicht selten Leben gegen Lehre
ausgespielt wurde. Aber die jüdische Kritik richtet sich vor
allem gegen solche Festschreibungen der Kirchenlehre, die sie aus den
Prozessen eines offenen Lebens und Lernens herausnimmt und so festlegt,
daß sie zum Mittel des Ausschlusses von Irrtum und Ketzerei
und damit zum Hebel für geistige, seelische, selbst physische
Gewalt werden konnte, nicht nur gegen irrende Christen, auch gegen
kirchenfremde Juden. Durch das Medium Theologie haben Christen Juden
zuerst als zu sich gehörig definiert und sie danach nach
innerchristlichen und innerkirchlichen Maßstäben
beurteilt, verurteilt und behandelt. Um ihre Seelen für das
christliche Heil zu retten, mußten auch ihre Bücher
und dann auch ihre Leiber brennen. Was wunder, daß sie sich -
erst recht nach Auschwitz - gegenüber diesem ganzen Medium
Theologie auf kaltem Abstand halten: Laßt uns mit Theologie
in Ruhe! Sie geht uns nichts an. Das ist eure Sache allein - obgleich
wir auch da aufpassen müssen, wie ihr euer Verhältnis
zu uns besprecht, wenn ihr theologisch unter euch seid. Denn eure
Theologie ist bisher immer auf uns zurückgefallen. Am besten
wäre, ihr wurdet euch gar nicht mehr mit uns
beschäftigen, sondern nur noch mit euch selbst. Aber wir sehen
ein, daß es da grundsätzlich zwischen euch Christen
und uns Juden einen Unterschied gibt: Wir brauchen euch nicht; unser
Judentum steht in sich selbst. Ihr freilich braucht uns, denn von uns
kommt ihr her, ihr lebt nur eine von uns abgeleitete
Identität, und schon allein darin seid und bleibt ihr
für uns gefährlich, nämlich dauernd darauf
angewiesen, euch auch ein Bild vom Judentum zu machen, wenn ihr euch
selbst verstehen wollt. Bisher habt ihr dies stets ohne
Rücksicht auf unser jüdisches
Selbstverständnis, seine geschichtliche Vielfalt, seine
Schicksale und Wandlungen getan - über unsere Kopfe hinweg,
allein in der Logik und Systematik eurer Interessen an euch selbst und
eurer Definitionsgewalt. Und eigentlich nur da besteht für uns
Juden eine innere Nötigung, mit euch Christen zu sprechen: Wir
müssen das, damit ihr uns nicht noch einmal totschlagt.
Fremdheit, Not und Todeserfahrung - jüdische Zugange zu
christlicher Theologie!
Diese Daten der gegenwärtigen christlich-jüdischen
Beziehung bestimmen den Sinn meiner folgenden Überlegungen.
Erstens: Die jüdische »Herausforderung«,
unter der ich uns Christen sehe, ist die Tödlichkeit einer
kirchlichen Theologie, von der - mit Häretikern und Ketzern -
vor allem Juden eine Erfahrung haben, Uber die wir selbst wenig wissen
und uns so gut wie gar nicht besinnen, wenn wir Prinzipien der
Theologie entwickeln. Zweitens: Herausforderungen an unsere
Glaubenslehre stellen nicht Juden, die an unserer Theologie - und an
Theologie in unserem Sinne überhaupt - kein oder nur ein
geringes Interesse haben. Wir selbst sehen uns unter jüdische
Herausforderungen gestellt, wenn wir beginnen, des »Todes in
unseren Töpfen« innezuwerden, und wenn wir uns
bemühen wollen, unsere christliche Identität nicht
mehr durch Antithese und auf Kosten jüdischer
Identität gewinnen und bestimmen zu wollen.
Diese Herausforderung bedeutet eine unerhört schwieriger
Situation und Umstandsbestimmung für Glaube und Verstehen, wie
wir sie in den zweitausend Jahren Christentum so vielleicht noch nicht
gehabt haben - jedenfalls nicht in der Zeit nach dem Neuen Testament.
Lange vor Auschwitz hat Leo Baeck z.B. die Aufgabe einer Bibelauslegung
beschrieben: »Nicht Worte sind zu erklären, nicht
Satze auszulegen, sondern Menschen zu begreifen.« Den Abstand
des Judentums von »Theologie« in ihrer
christlich-kirchlichen Bedeutung drückte er mit dem Satz aus:
»Das Beste im Judentum sind, weit mehr noch als die Lehren,
die lebendigen Menschen«,1und
er verdeutlichte das:
»Wo die moderne Neigung herrscht, mit dem Rechenstifte den
Wert einer Religion zu ermitteln, dort wird man dem Judentum und der
Bibel kaum gerecht werden können. Diese spricht nicht (wie
Harnack) zu drei Dutzenden von dem Vater im Himmel, und jenes redet
nicht zu hundert Malen (wie Harnack) von Gottes Güte und
Liebe. Sie (die Juden) tragen mehr im Herzen als auf den Lippen und
finden darum geringe Gnade vor den Meistern der Zahl, den Arithmetikern
der Religion.« Er meinte damit den Religionsvergleich und
schreibt dies nicht nur den theologischer Historikern ins Stammbuch,
sondern vor allem auch uns Systematikern: »... aus dem Kreise
der Systematiker sind ja die härtesten Inquisitionen
hervorgegangen.«2
Dagegen stellte er jüdisch »die lebendigen
Menschen«. Wie erst spricht dieses Wort
»lebendig« nach Auschwitz zu uns! Zur Bedingung
biblischer und theologischer Hermeneutik ist nicht »das
Juden¬tum« geworden, sondern sie sind es - die
Überlebenden. Ihr Überleben meine ich, fast hundert
Jahre nach Leo Baeck, als jüdische Herausforderung an
christliche Theologie bejahen zu sollen. Und dies möchte ich
nicht nur eine ethische Komponente an die Gattung Theologie nennen,
sondern eine die theologischen Prinzipien betreffende Aufgabe: Nicht
nur bei den Vätern und Müttern, also nicht nur bei
der kirchlichen Tradition sollen wir lernen, sondern auch bei Opfern
der kirchlichen Theologie, denn angeblich von Gottes
Prädestination und wirklich von der christlichen Wahrheit
Verworfenen.
Doch wie macht man das: bei seinen Opfern lernen? Vorerst
weiß ich keine andere Antwort als: Versuche, deine eigene
Lehre mit den Ohren und der Empfindlichkeit von Juden zu entwickeln
und, wo nötig, zu revidieren, und laß ihre Lehrer
mitsprechen, wenn du sprichst.
1. Jesus der Jude oder: Rückgabe und Heimholung
Endlich sprechen wir heute wieder von Jesus, dem Juden. Nun will ich
ihn in unserem Zusammenhang als solchen nicht starker charakterisieren,3
vielmehr nachdenken,
was es methodisch bedeutet, von Jesus dem Juden zu sprechen.
Zunächst ist dies ja eine Summe der historischen
Leben-Jesu-Forschung, wie Albert Schweitzer sie dargestellt hatte. Was
an Jesus historisch faßbar war, sah er an das zu seiner Zeit
noch so genannte »Spätjudentum«
zurückfallen. Dies aber können wir nicht mehr
einholen, wenn wir Jesu Bedeutung für uns heute finden wollen
- nicht, weil es jüdisch, vielmehr weil es uns historisch
unendlich fern und fremd ist. Unser Verhältnis zu Jesus heute
ist, sagte Schweitzer, im letzten Grunde«
»mystischer Art«, wie jedes tiefere
Verhältnis zwischen Menschen auch sonst4
Mystische Beziehungen lassen sich aber nicht auf Geschichte
gründen, Jesus wirkt auf uns anders ein als durch irgendeine
Gestalt einer gesicherten oder unsicheren Historizität, somit
auch anders als durch das, was jüdisch an ihnen gewesen sein
mag. Mein Lehrer Rudolf Bultmann hatte daraus den Schluß
gezogen: Auftreten und Verkündigung Jesu haben mit einer
Theologie des Neuen Testaments nichts zu tun. Christlicher Glaube
beginnt mit der Botschaft vom Gekreuzigten und Auferstandenen,
»nicht schon in der Verkündigung Jesu« .
Er setzte
gegenüber Schweitzer allerdings einen judenkritischen Akzent,
indem er, was er an Jesu Verkündigung fand, als fundamentalen
»Protest gegen die jüdische
Gesetzlichkeit« las und als Gegensatz zwischen Gottes Willen,
von dem er Jesus durchdrungen sah, und überhaupt der
Sphäre des Rechts, die er für charakteristisch
jüdisch hielt.5
So grenzte er Jesus aus der christlichen Theologie aus und beurteilte
ihn als Kritiker des Judentums. Historizität und
Judentumskritik fielen zusammen - in einem höchst
dialektischen Verhältnis. Der historische Jesus ist nicht
Jesus, der Jude, sondern Jesus im Protest gegen das Judentum.
Ich übergehe hier die Rückeroberung eines
historischen Jesus durch große Bultmann-Schüler wie
Ernst Fuchs, Ernst Käsemann und Gunter Bornkamm, bemerke nur,
daß sie nach dem historischen Jesus nicht fragten um seiner
selbst willen, sondern um des vom Tode erweckten Oster-Jesus willen,
nämlich um die Osterverkündigung vor dem
Ver¬dacht zu schützen, Gnosis zu sein: also nur eine
Wirklichkeit in unseren Köpfen, nicht eine über
unsere Kopfe hinaus. Dabei behielten sie freilich Bultmanns
judenkritische Merk¬male Jesu. Das Historische und das
Judenkritische fielen auch bei ihnen so ineinander - ein Vorgang
übrigens, der bei ihnen erst nach 1945, nach Auschwitz,
Ereignis wurde! Wie auch immer: Mit Bultmanns Ausgrenzung Jesu aus der
Christus-Botschaft haben wir dem Judentum einen Protestler gegen das
Judenturn zurückgegeben. Mit der Rückgewinnung Jesu
für die Christus-Botschaft haben Bultmanns Schuler den
radikalen Juden-Kritiker Jesus in das christliche Bekenntnis
zurückgeholt - der er schon zweitausend Jahre lang war.
Allerdings bewahrte Bultmann selbst das Deutemotiv Albert Schweitzers -
zwar nicht mehr als ein mystisches Verhältnis. Aber er stellte
Jesus vom Glaubensverhältnis frei zur existentialen
Interpretation seiner Verkündigung vom Kommen der
Gottesherrschaft, vom Willen Gottes und vom fernen und nahen Gott. Wie
Schweitzer wollte er dadurch »zu einer höchst
persönlichen Begegnung« mit Jesus führen,
freilich nicht mit seiner
»Persönlichkeit«, aber mit den in ihm sich
uns erschließenden Möglichkeiten unseres eigenen
Existierens, ihren Ungesichertheiten und der Entscheidung, zu der sie
uns rufen.6
Das hätte eine hohe Schule wirklichen Begegnens sein
können, wie sie Martin Luther vorschwebte - wenn dabei der
geschichtliche Zusammenhang eine Rolle gespielt hätte, in und
aus dem Jesus lebte, wenn der nicht weg-existentialisiert, also
enthistorisiert worden wäre. Das aber geschah: Wie Jesus
herausgehoben wurde aus der Glaubensbotschaft der Kirchen, so auch aus
der Lebensgemeinschaft seines Volkes und aus dessen Bundesgemeinschaft
mit Gott. Immerhin: Im Willen Bultmanns, Jesus zu begegnen, empfand
Martin Buber eine Nahe zum Judentum, wie nach ihm z.B. auch Schalom
Ben-Chorin, und ausdrücklich sagte Buber (im Vorwort zu seinen
»Zwei Glaubenswesen«, 1950) ebenso Ja zu Bultmann
wie zu Albert Schweitzer, Rudolf Otto und Leonhard Ragaz - weil sie
alle dazu beigetragen haben, Jesus aus der kirchlichen Befangenheit im
Mythos zu lösen. Freilich halte ich Bubers Ja für ein
Mißverständnis - als wäre Schweitzers
mystischer und Bultmanns existential herausfordernder Jesus der
»historische« Jesus, wie Juden ihn aufzufassen
gelernt hatten; Buber und Ben-Chorin spürten nicht den
kerygmatischen Grundbestand, den Glaubensgrund, den Jesus auch in der
existentialen Interpretation und in der Mystik zwischenmenschlicher
Begegnung behalten hatte, das, was uns auch da
»unbedingt«, also gotthaft angehen sollte. Damit
kommen wir aber zu einem tiefer gegründeten
Mißverständnis zwischen Juden und Christen, was den
sog. »historischen« Jesus betrifft. Ist der
historische Jesus der christlichen Theologie gleich Jesus, dem Juden,
den inzwischen Juden sich »heimgeholt« haben?
Der christlichen Rückgabe des historischen Jesus an das
Judentum entsprach seine jüdische
»Heimholung«; Ben¬-Chorin hat es so genannt
und beschrieben.7
Der »jüdische outsider« Leo Wertheimer al.
Constantin Brunner (1862-1937) hatte 1921 - womöglich in
Anspielung auf Bachs Arie aus der Matthaus-Passion »Gebt mir
meinen Jesus wieder« - die Parole ausgegeben: »Gebt
uns unseren Jesus wieder! « (Unser Christus und das Wesen des
Genies).8
Darin fand Ben-Chorin »jene neuzeitliche Bemühung um
die Heimholung Jesu in das jüdische Volk
zusammengefaßt«, die er schon vereinzelt im
Mittelalter beginnen, im 19. Jahrhundert sich fortsetzen, in den
zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts sich kräftig durchsetzen
sah (J. Klausner, R. Eisler, St. Wise, M. J. Bin-Gorion, Cl.
Montefiore, L. Baeck, J. Podro, R. Graves, R. Aron, H. J. Schoeps
etc.). Auch hier will ich nicht ins Einzelne gehen. Methodisch
vollzieht sich dies nicht mit den uns geläufigen Kriterien
historischer Literaturkritik. Ben-Chorin spricht bewußt von
einer Heimholung Jesu »ins jüdische Volk«,
nicht in die Entwicklungsgeschichte der jüdischen Religion, in
welchem ihrer Stadien auch immer. Ein zionistisches Motiv brauchen wir
bei dieser Formulierung nicht zu überhören. Doch
lernen wir dabei grundsätzlicher:
»Judentum« versteht sich selbst nicht zuerst als
literarisch-geistesgeschichtliche Wirklichkeit, zieht seine erste
Bestimmung weder aus der Bibel noch aus den rabbinischen
Gesprächen der mündlichen Tora noch aus
mittelalterlicher Philosophie noch aus Kabbala und dergleichen. Erste
Bestimmung ist sein immer gefährdetes Dasein als Volk und
allenfalls die religiöse Prägung seiner Lebensstile
in Festen, zwischenmenschlichen Beziehungen, geschmacklichen und
ästhetischen Neigungen und Abneigungen.
Und mehr die Genealogie als die Theologie, mehr die jüdische
Mutter als die Religion machen Jüdin und Juden aus. Und dann
freilich auch das tödliche Geschick.
Dies ist ein anderes Verständnis des
»Historischen«, als es unserer
historisch-kritischen Umgangsweise mit der Bibel zugrundeliegt.
Über Generationen hinweg galt die methodische Regel:
»Historischer« Jesus ist, was wir an den
Jesus-Zeugnissen des Neuen Testaments weder ableiten können
aus dem Judentum, noch aus dem Bekenntnis der Kirche und dem
christlichen Glauben an Jesus. Zum Gluck sind jüngere
Neutestamentler über dieses Maß jetzt hinweg, nach
dem Jesus gerade historisch niemals als Jude hatte erkannt werden
dürfen. Heutige Suche nach einem historischen Jesus geht
vorsichtiger zu Werke, wohl auch kritischer gegen das Ideologische in
diesem Maß fürs Historische: das
Bürgerliche nämlich, das einen Menschen nach seiner
Originalität und Unverwechselbarkeit beurteilt, nicht nach
dem, was er mit seinen Mitmenschen teilt und gemein hat.
Jüdisch hingegen ist das Maß für einen
historischen Jesus gerade umgekehrt, daß er sich als Jude
wiedererkennen und freudig begrüßen laßt
wie ein lange an die Fremde verlorener Sohn im Hause seiner Mutter und
Vater. Ein Wiedererkennen seines israelitischen Idioms in der Sprache,
- seiner Themen, Leitworte und Redeweisen, - seines Handelns und
Wandelns, seiner Gebete und seiner gottesdienstlichen Kleidung, -
seines Ich-aber-sage-euch-Trotzes, - seines Widerstands und seiner
Ergebung, seines Leidens - und ja auch des ihm, dem Täter der
Tora, geschenkten Lebens der kommenden Welt. Für Juden ist es
ganz selbstverständlich, daß zur jüdischen
Erkennbarkeit nicht wenige Eigenarten gehören - jeder Jude:
ein ganzes Judentum! -, und ein Eklektizismus gehört immer
dazu: Ist er mehr Pharisäer oder mehr Qumranmensch, was
wittert von Zelotentum, was von Apokalyptik in ihm und um ihn herum;
und wenn Pharisäer - was für einer: mehr milder
Hillel, mehr strenger Schammai, mehr ein von den Weisungen der Tora
belasteter, mehr ein von der Zeit gehetzter, mehr ein berechnender,
mehr ein über seine Armut klagender, wohl gar: ein
Pharisäer rein aus Liebe zu der Tora wie Abraham?9
Doch was mehr - was
weniger! Wir hörten schon den Rabbiner Baeck sagen: Mit dem
»Rechenstift« läßt sich der
Vielfalt des Jüdischen nicht beikommen. Allenfalls
ließe sich testen: Kann er das schema Jißrael
sagen? Das konn¬te Jesus: Mk 12,29. Also! Es ist nicht die
Frage, ob und wie genau man jemanden einordnen kann in ein
fälschlich als System gedachtes Judentum, sondern ob man ihn
zuordnen kann: etwas durch seine Mutter oder allenfalls das schema
Jißrael; aber auch das kann noch überboten werden
von dem ganz einfachen: Kann sein Volk ihn wiedererkennen als einen der
Seinen? Das ist in seiner ganzen populären
Unbestimmt¬heit and letztlich grundsätzlichen
Unbestimmbarkeit das historische Maß und also auch
Maß des Historischen: Wie¬dererkennbarkeit von innen
her. Dazu hat der in der histo¬rischen Kritik der Christen
wahrlich erfahrene Martin Buber sich bekannt: »Jesus habe ich
von Jugend auf als meinen gro§en Bruder empfunden...
Mein eigenes brüderlich aufgeschlossenes Verhältnis
zu ihm ist immer starker and reiner geworden, and ich sehe ihn heute
mit stärkerem and reinerem Blick als je.« -
»Brüderlich aufgeschlossen sein«: eine
Kategorie von Historizität, leider nicht aus unserem
christlichen Methoden-Kanon. Buber, dies etwas mehr
objektivie¬rend: »Es gibt ein Etwas in der
Glaubensgeschichte Israels, das nur von Israel her zu erkennen ist, wie
es ein Etwas in der G1aubensgeschichte der Christenheit gibt, das nur
von ihr aus zu erkennen ist«10
Eben hier sehe ich uns unter einer ersten jüdischen
Herausforderung: am Begriff des Historischen. Wir Christen haben einen
historischen Jesus gegen einen allzu dogmatischen Christus gebraucht
and gesetzt. Juden sehen wir das kirchliche Jesus-Bild in Beziehung zu
ihrem heutigen Leben und Überleben setzen, zu ihrer
Selbsterfahrung in Kontinuität and Differenz ihrer
Generationen, zu ihrem heutigen Leben in ihren höchst diversen
und einander geradezu be¬kriegenden
Überzeugungsgruppen, aber ohne die Möglichkeit, einen
zusammenhaltenden höheren Begriff von ihrem Leben zu bilden.
Die einen behaupten sich am Leben in der Selbstgewißheit
orthodoxer Tradition - ohne Wanken and Anfechtungen; andere (wie z.B.
Emil Fackenheim) in einem Leben, bestimmt von der Totalitat seiner
Negation durch uns Deutsche and uns Christen, also in einem wesenhaften
and schmerzenden Überleben der Schoah.
Kurz: Jüdische gelebte Historie in eigenem Fleisch and Leib
versus geistiges Konstrukt Historie, das Jesus vor dem und vom Dogma
der Kirche retten soll. Vielleicht hat Buber gemeint: Kein Drittes
dazwischen oder: daraus! Historischer Jesus hier - Jesus der Jude dort.
Wenn kein Drittes, dann wenigstens: Höre auf Jesus, den Juden,
wenn du den historischen Jesus suchst! Oder aber doch dazwischen:
»Fur wen haltet ihr mich? « (Mk 8,29 u. par.).
2. Messias - messianische Tage and olam haba
Nun einen kleinen Schritt auf Christologie zu. Was meinen wir, wenn wir
uns zu Jesus »Christus« bekennen? Ein
jüdischer Name: maschiach, Messias - was bedeutet er ihnen,
was uns?
Das christliche Bekenntnis zum Christus Jesus ist alt and früh
in unserer Tradition, doch nicht der einzige Name Jesu, sondern einer
unter vielen anderen Bekenntnis-Namen, und auch nicht universal
durchgesetzt; wir haben Schichten im Neuen Testament, in denen Jesus
ohne Titel genannt wird, einfach »Jesus«
heißt, ohne weiteres. Freilich: Schnell sei
»Christus« zum zweiten Namen Jesu geworden, habe
jeden titularen Sinn verloren, and so hat man sich entweder beim
Messias-Namen Jesu bald gar nichts mehr gedacht oder man hat all die
verschiedenen Hoheitsnamen (»Herr«,
»Heiland«, »Gottessohn
»Menschensohn« usw.) unterschiedslos als ein and
dasselbe aufgefaßt: Es meint eben eine
»Hoheit«, etwas über uns Erhabenes and in
der Regel: etwas Göttliches an Jesus.
Dies wäre freilich weit weg von einer jüdischen
Bedeutung dieses Namens. Denn was immer Juden mit dem Messias verbunden
haben mögen - göttlich oder gar Gott war er ihnen
nicht, sondern nichts als ein Mensch und Gesendeter Gottes.
Gewiß ist jüdischen Denken reich an Vorstellungen
von Aufgabe, Geschick and Zeit eines Messias-Menschen. Er kann schon
dagewesen sein. Er kann herrschen, aber auch leiden und sterben. Kann
wie ein Prophet wirken, aber auch wie ein König oder Priester.
Man kann sich auf and über ihn freuen, aber auch langst seiner
überdrüssig sein und ihn gar nicht erst sehen wollen.11
Keineswegs verbinden
sich mit seiner Erwartung immer Heilshoffnungen - auch
Katastrophenängste. Hinter der Vielfalt von Vorstellungen
stecken enorm viele Wechselfälle der politischen und der
Glaubens¬geschichte Israel. Der Messias ist kein Dogma. Wohl
kann man um sein Kommen beten and darauf hoffen. Aber die Bilder von
ihm verschwimmen ineinander, er ist zweideutig, eine der vieldeutigsten
Wirklichkeiten Israels. Das zeigt: Er hängt im Wandel and der
Relativität der Geschichte. Zu ihr gehört eine nicht
abreißende Kette von Leuten, die sich selbst oder die andere
als Messias wußten; gerade hat Reinhold Mayer die
»Geschichte der Messiasse in drei Jahrtausenden«
erzählt;12
ich habe nicht gezählt, wie viele es gab.13
Sie alle
enttäuschten, in den Augen des Volkes waren sie es nicht. Das
aber zeigt uns grundsatzlich folgendes:
1. Wo soviele Messiasse enttäuschten and es nicht
»waren«, gehört geschichtliche
Enttäuschung zu einer jüdischen Grunderfahrung vom
Messias. Nicht nur für Jesus gilt das, dem einen von so vielen.14
2. Messias gehört nicht zur transzendenten Welt, sondern zu
der unseren; Transzendenz kann ja nicht enttäuschen.
3. Wie es war im geschichtlichen Anfang, so blieb es durch alle
Wandlungen hindurch: a) Der Messias ist eine Hoffnung des
jüdischen Volkes für das jüdische Volk. b)
Er ist Gegenstand einer politischen Restaurationshoffnung, auf Jesus
gewandt am Ende des Lukasevangeliums das Wort von der
Enttäuschung: »Wir aber hofften, er wurde Israel
befreien« (Lk 24,21), hinüberweisend zum Beginn der
Apostelge¬schichte des Lukas: »Herr, wann stellst du
das Reich für Israel wieder her?« (Apg 1,6); ich
nenne dies die »zionistische« Klammer, mit der
Lukas sein Evangelium and seine Apostelgeschichte miteinander
verschränkt hat.
4. Diese Merkmale schließen einen universal-eschatologischen
Überschwang der jüdischen Messiashoffnung nicht aus,
aber schließen ihn ein in die diesseitig-politische
Grund¬bedeutung des Messias.
5. Die grundsätzliche weltgeschichtliche Bedeutung des Messias
spiegelt sich darin wieder, daß ihm eine eigene Zeit
gehört zwischen »dieser Welt« und der
»kommenden«: die jemot ha-maschiach, die
»Tage des Messias« ; sie sind nicht schon das ewige
Reich Gottes, sondern eben die Tage des »Reiches für
Israel«, der Wiedergutmachung für die Vertreibungen,
Unterdrückungen and Leiden des jüdischen Volkes,
christlich aufgenommen in der Erwartung eines tausendjährigen
Friedensreiches auf Erden (vgl. Offenbarung 20). Unser Christentum hat
diese fundamentale Bedeutung des Messias nicht mehr wahrhaben wollen,
obgleich sie - wie das Beispiel Lukas zeigt - einen Sitz auch im Neuen
Testament hat. Jede jüdisch-politische Bedeutung wurde
zurückgewiesen; was jüdische Bilder des
Überschwangs waren, wurde christlich zum Eigentlichen. Die
eigene Zeit der »Tage des Messias« wurde trotz
Offenbarung 20 quittiert, nicht zuletzt auch im Kampf gegen
»Schwärmer«, die sich von die¬sen
Traditionen kirchlich-politisch motivieren ließen; ihre
Gedanken wurden als judaicae opiniones bekämpft, leere und
gefährliche »jüdische Meinungen«.
Wir gründeten unser Christus-Bekenntnis schlicht auf eine
Auswahl anderer »Vorstellungen« vom
»Messias« und losten den Namen aus dem
Grundzusammenhang seiner jüdischen Hoffnung. Statt politisch
»Reich« sagten wir geistig
»Heil«, und statt »für
Israel« sagten wir » für Alle«.
Solches Bauen unseres Christus-Bekenntnisses auf eine andere Auswahl
jüdischer Vorstellungen halte ich für einen wankenden
Boden - wie überhaupt den exegetischen Ansatz für das
Christus-Bekenntnis der Kirchen bei alten
»Vorstellungen«, insbesondere bei den sogenannten
»Hoheitstiteln« Jesu (z.B. Ferdinand Hahn, aber in
gewissem Sinne auch Oskar Cullmann). Ihre religionsgeschichtliche
Aufklärung sagt uns ja überhaupt nichts über
den Sinn ihrer Anwendung auf Jesus, nichts über eine von Jesus
ausgehende innere Notwendigkeit, ihn nun gerade als
»Messias«, »Gottessohn«,
»Menschensohn« usw. zu bekennen, und schon gar
nichts von einer je spezifischen Verbindlichkeit und Verpflichtung, in
die wir nun gerade durch je diesen, je jenen anderen Namen genommen
werden, wenn wir ihn bekennen. Diese Unverbindlichkeit im Gebrauch des
Messias-Namens tragt uns die jüdische Frage ein: Wenn Jesus
Messias ist, wieso ist dann die Welt noch nicht verändert, so
daß wir Juden angst¬frei und im Frieden in der Mitte
der Volker leben können? Ich höre dies als die
eigentliche »Messiasfrage« heute und finde uns
nicht gut beraten, wenn wir gegenüber dieser Frage einfach auf
andere »Vorstellungen« ausweichen und da gar mit
»richtig« oder »falsch«
operieren.
Zweierlei leitet mich dabei grundsätzlich:
1. Selbst wenn ich anderen als politisch-restaurativen
Messias-Vorstellungen des Judentums von einer bloßen
Rückkehr zur alten Davidsherrschaft den Vorzug gebe, z.B. mit
dem menschheitlich-utopisch-progressiven Messianismus von Ernst Bloch:
Gerade beim Messias/Christus-Namen darf ich den Grundzusammenhang zur
Geschichte des jüdischen Volkes nicht kappen, in dem alle
Vorstellungen gründen, darf nicht apart-heilsgeschichtlich
isolieren, was rundherum weltgeschichtlich gemeint ist. Ist!, nicht
einst »war«. Denn der Messias rumort auch in der
heutigen Geschichte des jüdischen Volkes wie eh und je. Nicht
nur, daß der letzte Messias - der Lubawitscher Rebbe Menachem
Mendel Schneerson in Brooklyn - gerade eben erst gestorben ist - wie es
sich gehört: unverrichteter Dinge. Nicht nur, daß in
Jerusalem alle Gewänder der Priester für den neuen
Tempelgottesdienst, nach biblischer und talmudischer Vorschrift
genäht, längst bereitliegen, ja der Grundstein des
neuen Altars nach biblischer und talmudischer Vorschrift nur mit
Lederriemen und ohne Zuhilfenahme von Eisengerat langst geschliffen
ist; nur noch »kommen« muß der Messias,
»komm, denn es ist alles bereit! « Wichtiger
scheint mir, daß die permanenten
Messias-Enttäuschungen womöglich bei einer Mehrzahl
von Juden » die Tage des Messias« haben wichtiger
werden lassen als eine einzelne messianische Person und der Gedanke
messianischer »Verhältnisse« der tiefste
Ausdruck der Erwartung des Messias geworden ist. Das heißt
aber: Der ursprünglich weltlich-politische Sinn des Messias
hat alle anderen eschatologischen Hoffnungen an die zweite, dritte
Stelle zurückgestellt.
2. Das eben nenne ich eine zweite jüdische Herausforderung an
unser Christus-Messias-Bekenntnis. Können, dürfen wir
es unberührt vom Gang der Enttäuschungen und
Wandlungen der Geschichte des mit uns lebenden jüdischen
Volkes unverändert in immer demselben Sinn festhalten,
gestützt auf ein anderes Ensemble von
Messias-»Vorstellungen«? Müssen wir nicht
vielmehr Dietrich Bonhoeffers Frage zur Leitfrage unseres Bekenntnisses
machen: »Wer ist Jesus Christus« eigentlich
»für uns heute?«15
Und treibt uns dies
nicht neu zur Einkehr in die Frage: »Bist du, der da kommen
soll, oder sollen wir eines anderen warten? « (Mt 11,3).
Ohne, von Juden dazu gedrängt, durch das Feuer dieser Frage zu
gehen, kann ich auch bekennend nicht mehr die Antwort bezeugen. Ich
kann ihn nicht mehr - »einfach so« -
»Christus«, den Messias nennen.
3. Schittuf oder: Die Vergesellschaftung Gottes mit Jesus
Wir gehen noch einen Schritt naher an »hohe«
Christologie heran. »Gott war in Christus und
versöhnte die Welt mit sich selber« (2. Kor 5,19) -
was müssen das für Widerfahrnisse gewesen sein, die
sich in solchen Sätzen sprachlichen Ausdruck verschafften!
Klar, daß darüber nun ein großes
Nachdenken begann, wie man alles in den Grenzen menschlicher
Erkenntnismöglichkeiten verstehen könnte, was da
geschah, vor allem: wie man es gedanklich festzuhalten
vermöchte: Wie kamen da Gott und Christus zueinander, und: wie
gehörten sie zueinander? Gab es da eine uns nachvollziehbare
Bedingung der Möglichkeit, so weltenverändernd
zueinanderkommen zu können: einseitige, beiderseitige? Was
wunder, daß jedenfalls am Heidentum gebildete Christen bald
zu Theologen wurden und nach Bedingungen solcher Widerfahrnisse im
Inneren Jesu, aber auch im Inneren Gottes zu suchen begannen, -
daß, abstrakt gesagt, christologischen Fragen nach dem
Zusammensein von Gott und Mensch in Jesus sich bald auch ein
trinitarisches Fragen nach dem Zusammensein von Mensch und Jesus in
Gott anschloß und überhaupt ihrer beider
ereignishaftes Zusammenkommen weitertrieb zur Frage nach ihrer beider
Zusammensein.
Doch gerade bei diesem zweiten Gedankenschritt sahen und sehen Juden
nun christliche Theologen den Boden der Gemeinsamkeiten verlassen.
Daß Gott und Mensch zusammenkommen können,
läßt sich jüdisch noch gut fragen, und wenn
z.B. Christen sich vom Johannesevangelium bezeugen lassen,
daß der Vater den Sohn und der Sohn den Vater
»verherrlichen« wollen, ist das keinem Juden fremd.
Doch anders, wenn nun Theologen beginnen, das, was Gott und Jesus
einander zur Freude und ihrem gegenseitigen Rühmen in der Welt
tun, in ewige Seinsbestimmungen umzuwandeln und vor allem dem ewigen.
Vater einen ewigen Sohn beizugesellen, bei dem alle sofort an Jesus von
Nazareth denken müssen und nach dem Willen der Theologen auch
sollen. Da wird, so sehen es Juden bis heute, das Herzstuck des
jüdischen Lebens mit Gott berührt: das schema
Jißrael, der tägliche Ruf vom Einssein und der
inneren Einheit und Unteilbarkeit Gottes, der - ein Imperativ:
»Hore Israel!« - keine monotheistische Theorie
vertritt, sondern ein Anruf jedes jüdischen Menschen an sich
selbst ist: Ich, Jude, Jüdin, muß und will mir immer
wieder selbst sagen: »Eine« dich mit niemand
anderem als nur dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, und eine dich mit
ihm von Atemzug zu Atemzug aus allen Zerstreutheiten und Zerstreuungen
deines Lebens heraus. Für Juden geht es wirklich nicht um ein
monotheistisches Gottesbild. Der eine Gott ist der Gott, mit dem Israel
sich immer neu »einen« kann - ein Gedanke, den Leo
Baeck aus den Tiefen und Fernen der Überlieferungen des
Judentums geholt und wieder lebendig gemacht hat. Das
»Wesen« des »einen« Gottes
beinhaltet: Er steht dafür immer wieder neu bereit,
daß Israel sich mit ihm immer wieder neu
»einen« kann: »von ganzem Herzen, von
ganzer Seele, mit allen Kräften« (Dtn/Dewarim 6,5).
Freilich: Das enthält - ich glaube, auch historisch
ursprünglich - ein zweites Einungsmoment: »Ganz
Israel« (Röm 11,26) vereint sich (zuerst aus allen
verschiedenen Stämmen, dann aus allen Welten der gola, der
Zerstreuung), indem alle Juden sich über alle Fernen hinweg
mit diesem einen und keinem anderen Gott »einen«.
Die Einheit Gottes ist eine Bundes- und Verbindungseinheit, abstrakt
theologisch: eine ekklesiologische, jedenfalls eine
Gemeinschaftswirklichkeit, keine der Zahl, kein abstraktes
monotheistisches Gottesbild, ein soziales Netz: Er - Gott -
für sie da, jeder einzelne, jede einzelne: gezogen and
gehalten, sich mit Ihm zu einen und so als ein Israel, das
»Israel Gottes« zusammenzufinden (Gal 6,16),
über alle Gefahrdungen und Zerstreuungen zusammenzubleiben.
Wenn doch wir Christen etwas Vergleichbares im Verhältnis von
»Vater«, »Sohn« and
»Geist« wiederentdecken könnten:
Trinität im tiefsten eine ursprüngliche
»Soziallehre der christlichen Kirchen and Gruppen«
(Ernst Troeltsch)! Gott/»Vater« - ein Jude/der
»Sohn« - »ganz Israel«/der
»Geist«, nun ausgegossen über
»alles Fleisch«! Die kirchliche Lehrtradition von
einer sog. ökonomischen Trinität vermochte eine
solche soziale Dimension auszudrücken: Gott lebt seine
Dreieinigkeit in einem geschichtlichen Geschehen zwischen Himmel und
Erde. Aber unsere christlichen Mutter and Vater hatten gute
Gründe, den Gedanken einer sog. immanenten Trinität
zu entwickeln: das, was zwischen Himmel und Erde Vater, Sohn and Geist
miteinander tun and sind, nun »zuvor« (Karl Barth)
als ein Geschehen im inneren Leben Gottes zu erkennen. Der
»Sohn« ist dadurch nicht mehr nur Gottes irdische
Bezugsperson Jesus von Nazareth, sondern Jesus von Nazareth soll als
innere Wirklichkeit, himmlische Bezugsperson Gottes gelobt werden: als
»ewiger Sohn« des »ewigen
Vaters«. Es waren die Christen unter den Völkern,
die eine letzte Gewißheit dafür suchten,
daß Jesu Berufung zu dem ihnen von Haus aus völlig
unbekannten and fremden Gott Abrahams, Isaaks and Jakobs, also einem
ihnen grundfremden Gott kein geschichtlicher Zufall war - der dann auch
eines Tages womöglich revidiert werden konnte -, sondern
tatsachlich ein aus dem Inneren Gottes selbst kommender and darin
unumstößlicher Ruf war. So suchten sie im
»ewigen Sohn« eine innere Instanz für
Jesus, dessen Ruf sie folgen wollten, in Gott, und im
»Heiligen Geist« eine Instanz desjenigen Geistes,
der sie aus ihrer alter Heidenvergangenheit in eine neue
Gotteswirklichkeit hinüberzog und -geleitete. Erst im Lob
solcher inneren Trinität Gottes konnten sie zu einer neuen
christlichen Identität finden. Juden hatten solche
Identitätsunsicherheit nicht. Auch wo sie Jesus folgen
wollten, bewahrten sie die Bezugsintimität ihres Bundes mit
dem Gott ihres Volkes, einer lehrhaften theologischen Versicherung
darüber bedurften sie nicht. Und so möchte ich die
Trinitätslehre eine Notwendigkeit der Heidenchristen, keine
der Judenchristen nennen and sehe darin auch einen Grund
dafür, daß wir im Neuen Testament wohl sog.
trinitarische Formeln haben, die den Geschehenszusammenhang zwischen
Himmel und Erde preisen, aber keine Satzbildungen über eine
innere Dreieinigkeit Gottes.
Dies ist nun aber wohl auch Grund dafür, daß eine
Mehrheit des Judentums uns Christen nicht anklagt auf awoda sara, nicht
fur Götzendiener halt; sie sehen, daß die
neutesta¬mentliche ökonomische Trinität die
Erzählung von einer Geschichte zwischen Gott and Menschen
umschreibt und keine »Vergottung« eines Menschen
meint, die in der Tat die Einheit Gottes zerstören wurde. Aber
in Richtung des Heidenchristentums und der Entwicklung einer immanenten
Trinitätslehre legen sie Widerspruch ein and erheben Klage
wegen schittuf.
Hermann Cohen hat das Wort schittuf übersetzt mit
»Assoziation« oder
»Vergesellschaftung« Gottes.16
Hans Joachim Schoeps
hat es umschrieben als »Verbindung des Namens Gottes mit
einer anderen Sache«.17
Den Archetypus fur dieses Wort haben jüdische Lehrer in der
Liturgie des Laubhüttenfestes, Sukkot, gefunden. Tritt da der
Priester an den Altar, umkreist er ihn zunächst einmal and
spricht dabei die flehentlichen Worte aus Ps 118,25: »Ach,
Herr, hilf doch, ach, Herr, laß doch gelingen.«18
Eine wichtige
Deutungsregel der Lehrer Israels verlangt, wo zweimal dasselbe Wort in
einem Satz genannt wird - wie hier zweimal »Herr«
-, nach Möglichkeit einen spezifischen Sinn in jedem dieser
Worte zu finden. So fand Rabbi Jehuda im zuerst gerufenen Namen
»Herr« den Gottesnamen adonai, beim zweitenmal aber
den Gottesnamen ER (einen der 72 Gottesnamen der Kabbala) and
hörte den Priester am Altar also rufen: »ICH (adonai
= »Ich bin der Herr dein Gott«) und ER, hilf doch.
« »ICH«: ein Gottesname der Nahe
für ein Du; »ER«: ein Gottesname der
Ferne, des objektivierten Abstands. Der eine Gott: zweimal anders Gott.
- Aber nun geht die Liturgie des Laubhüttenfestes weiter.
Verlaßt der Priester den Altar nach vollbrachtem Opfer, ruft
er die Worte: »Huldigung (oder
»Schönheit«) dir, o Altar, Huldigung (oder
»Schönheit«) dir, o Altar.«
Doppelt wird der Opferaltar beim Fortgang gesegnet; zweimal, aber
jeweils mit den gleichen Worten: Huldigung, Huldigung - und Altar,
Altar. Rabbi Elieser, treu rabbinischer Regel, deutete die erste
Huldigung auf Gott, erst die zweite auf den Altar, den Ort der
Begegnung von Gott and Menschengabe. »Gott and dir, Altar,
Gott and dir, o Altar.« Und da haben wir das, was sie
schittuf nannten: Gott, assoziiert mit etwas anderem als Gott, einem
Ding, einem Altar. Und gegen beide die gleiche Huldigung!
Selbstverständlich steht da für jüdisches
Empfinden die Einheit Gottes in Gefahr: Er, der Heilige, gelobt sei Er
- and neben ihm das weltlich Ding eines Altars, gelobt auch er? Was
passiert da?
Wir fragen aber etwas anderes: Wie kommt es vom liturgischen
Textproblem des Laubhüttenfestes zu schittuf, der Warnung an
das Heidentum? - Meine Antwort: Der Altar ist eben nicht nur irgendein
»weltlich Ding«, das wir nicht mit dem Heiligen,
gelobt sei Er (allein!), vergesellschaften dürften. Der Altar
ist der makom, Ort der Begegnung zwischen Israel and seinem Gott, der
Menschengaben, des Opfers an Gott. Und so mag der Altar symbolisch
Christologie and Soteriologie der Kirchen denken lassen. Der Altar und
Jesus Christus, in dem Gott and Menschen sich begegnen und beisammen
sind. Die Gaben des Altars and Jesus opfern sich Gott, als
»Lamm Gottes«.
Beides ist höchst problematischer schittuf. Zuerst:
»ICH« - Gott (egô eimi) - ani, and dann
daneben: »ER« - auch Gott, ani ve hu, Gott and
einer bei ihm, pros ton theon (Jon 1,1), and noch einmal.
»ICH« - Gott und mit ihm ein anderer: nicht ho
theos, sondern unbestimmter nur: theos, wie auch immer in Gesellschaft
mit ihm. Und dann zum zweitenmal schittuf: ICH/Gott, und unter gleichem
Segen der Tisch, der Altar, der makom: Ort der Begegnung zwischen Gott
and Menschen, und: Ort der Hingabe an Gott.
Dies nun mag die dritte jüdische Herausforderung sein an das
Christus-Bekenntnis der Kirchen. Von doppelter Art:
1. Eine Vergesellschaftung von Gott mit einer inneren Andersheit seiner
selbst: ani ve hu, ein ICH der Nähe und ein ER der Ferne gibt
es im rabbinischen Judentum wie in den trinitarischen Bildungen -
übrigens der gleichen Weltzeit! Jehuda and Elieser sind Lehrer
der 5. Generation der Tannaiten, also blühend gegen Ende des
2., zu Beginn des 3. Jahrhunderts christlicher Zählung, der
Zeit unserer apostolischen Väter. Versuche einmal, die
Trinität nach jüdischer Logik durchzudenken, und
schau, wie weit du damit kommst.
2. aber: Sei sensibel, empfindlich, irritiert, beunruhigt aber jede
Doppelung der Namen, jede Vereinung von Gott mit etwas anderem, wie die
Rabbinen es sind. Sei mißtrauisch gegen zu große
Einheit, entwickle eine Leidenschaft für die Differenz, den
Unterschied zwischen Gott und ihm selbst, Gott und einer anderen Sache.
Unterstelle eher Differenz als Einheit.
Das heißt aber: Übersetze jede Einheit, die du
denkst, ins Bekennen. deines Tuns. Bezeuge den einen Gott, indem du
versuchst, dich immer wieder zu einen mit dem Gott Israels. Der Heilige
Geist, den du in dir nicht zertrittst, sondern aufleben laßt
- der ist dock wohl die Bedingung der Möglichkeit
dafür, daß Gott und Jesus in deiner Erkenntnis,
also: in deinem Bekenntnis zusammenkommen. Er – Gott - adonai
ve hu, und Er - Jesus, der Jude!
Vortrag am 9. November 1998 in der Aula der Alten Universität
Greifswald, aus: FWM, Auf einem Schul-Weg, Berlin 1999, S. 279-300
1. Leo BAECK, Das Wesen des Judentums,11905,26; 2 1921,37. ↩
2. A.a.O., 1 1905,27; 2 1921,37f.↩
3. Vgl. Friedrich-Wilhelm MARQUARDT, »Jesus - ein Jude«, in: das baugerüst. Zeitschrift für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Evangelischen Jugendarbeit (Themenheft: Jüdische Religion, Israel und der jüdisch-christliche Dialog), 44. Jg., 1/1992, 22-25. ↩
4. Albert SCHWEITZER, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung (1906. 1913), Siebenstern-Tb 1966, Bd. 2, 629. .↩
5. Rudolf BULTMANN, Theologie des Neuen Testmuents,1953,11 f. ↩
6. R. BULTMANN, Jesus, Siebenstern-Tb 1964, 9f. ↩
7. Schalom BEN-CHORIN, »Das Jesus-Bild im modernen Judentum« (1953), in: ders., Im jüdisch-christlichen Gespräch, 1962. ↩
8. Zit. nach: Sch. BEN-CHORIN, »Das Jesus-Bild im modernen Judentum«, a.a.O., 61. ↩
9. jBrachot 14b; bSota 22b. ↩
10. Martin BUBER, Vorwort zu: Zwei Glaubensweisen, 1950, 11f. ↩
11. bSanhedrin 98b. ↩
12. Reinhold MAYER, War Jesus der Messias Israels?, 1998 ↩
13 Vgl. Natan P. LEVINSON, Der Messias, 1994. - Pnina NAVÉ-LEVINSON, »Historische Tafel zum Messianismus«, in: Einblicke ins Judenturn, 1991, 293ff. ↩
14. Vgl. Gershom SCHOLEM, »Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum«, in: Über einige Grundbegriffe des Judentums, 1970, 121ff. ↩
15. Dietrich BONHOEFFER, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeich¬nungen aus der Haft, hg. v. E. Bethge, 1951, 178 (Hervorh. FWM). ↩
16. Hermann COHEN, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, 21928, 56. ↩
17. Hans Joachim SCHOEPS, Jüdisch- christliches Religionsgespräch in neunzehn Jahrhunderten,21984, 29. ↩
18 Mischna Sukka IV,5. ↩
.