Johannes – aus dem Hebräischen gedacht1
Friedrich-Wilhelm Marquardt
I.
Am 5. Januar 1938 war das ‚Schweizerische Evangelische Hilfswerk für die
Bekennende Kirche’ in Deutschland gegründet worden, vor allem auf Initiative des
unvergessenen Pfarrers Paul Vogt hin. Im Oktober des gleichen Jahres erschien ein
Flugblatt, unterschrieben von: Ernst Hurter, Pfarrer in Zürich-Seebad; Karl Barth,
Professor in Basel; Oskar Farner, Dr., Pfarrer in Zürich; Gottfried Ludwig, Pfarrer in
Biel; Wilhelm Vischer, Pfarrer Lic. theol. in Basel: Präsident der Subkommission für
nichtarische Flüchtlinge aus der Bekennenden Kirche. Das Blatt trug die Überschrift:
„Memorandum zur Judenfrage“ und richtete sich an die Pfarrer der Reformierten
Kirchen der Schweiz mit dem Aufruf, Judenchristen in Deutschland zur Flucht in die
Schweiz zu helfen und dafür sowohl praktische wie geistliche Hilfe zu leisten. Diese
Aktion war also vor den November-Pogromen der sog. Reichskristallnacht gestartet
worden, und das Memorandum stand unter dem Motto „Das Heil kommt von den
Juden“.
In dem Ihnen wohlbekannten Stadtquartier Wipkingen versammelte sich seit 1938
dieses Hilfswerk zu jährlichen Tagungen: zu einer vierten im November 1941. Da
waren in Deutschland die Beschlüsse der Wannsee-Konferenz zur sog. Endlösung
der Judenfrage gefallen und wahrscheinlich in der Schweiz bereits ruchbar
geworden. So nimmt es nicht wunder, daß auf jener 4. Wipkinger Tagung ‚die
Judenfrage’ abermals zur Diskussion stand. Bei dieser Versammlung nun „ließ Barth
es fast zum Bruch mit dem ‚Hilfswerk’ kommen, nachdem dort Emil Brunner und
mit ihm die Majorität der Versammlung das präsentische Verständnis des Satzes
‚Das Heil kommt von den Juden’ bestritten hatte. Er blieb – auf inständiges Bitten von
Paul Vogt – bei dem Werk, aber nur unter der Bedingung, daß es künftig auf die
theologische Arbeit verzichte und sich auf die karitative Tätigkeit beschränke“ (E.
Busch, 327)2.
Leider habe ich die Protokolle dieser kontroversen Diskussion bisher
nicht auftreiben können, so daß ich nur das nackte Faktum, nicht den Verlauf des
Gesprächs im einzelnen kenne. Der Vorgang war aber für Karl Barth, so wie ich
meinen Lehrer auch später noch kennen gelernt habe, bezeichnend: Der
Zusammenhang zwischen praktisch-politischer Arbeit und theologischer Besinnung,
der dieses Hilfswerk auszeichnete, ging für ihn so weit, daß er es um theologischer
Gegensätze willen politisch und menschlich zum Bruch kommen lassen konnte. Er
sah in der bloß scheinbar rein exegetischen Frage, ob das Heil von den Juden nur
einstmals „kam“ oder ob es von dort her auch heute noch „kommt“, einen status
confessionis dem Hilfswerk gegenüber. Verstehe ich, mich in Barth hineindenkend,
den Inhalt seiner Entscheidungsfrage recht, dann meinte er wohl: Wer von Juden
theologisch heute nichts mehr erwartet, ist auch nicht ernsthaft in der Lage, ihnen zu
helfen; wem ich helfen will, auf den muß ich vor allem hören können – eine
politische und mehr als politische Weisheit ersten Ranges.
Nun, Barth hat sich von der praktischen Arbeit dieses Hilfswerks nicht
zurückgezogen. Aber er hat auch m.W. an der fünften Wipkinger Tagung im
November 1942 nicht teilgenommen. Denn dort wurde, seiner ultimativen
Forderung auf theologische Abstinenz und Praxis-Beschränkung zum Trotz, die
theologische sog. Judenfrage doch noch einmal ausdrücklich auf die Tagesordnung
gesetzt, unter der Überschrift ‚Der göttliche Sinn in Israels Geschick’. Als Referent
war der Neutestamentler Prof. Gottlob Schrenk zum Thema ‚Die Judenfrage im
Lichte von Röm 9-11’ gebeten worden. Er nahm dabei indirekt auf den Streit
zwischen Barth und Brunner vom Vorjahr Bezug mit der Frage: „Ist nicht Christus
das Ende von Gesetz und Opfer?“ – also das Ende jeder theologischen Bedeutung
Israels für die Christen, so daß Joh 4,22 wirklich nur als Aussage über einen
vergangenen heilsgeschichtlichen Wert Israels verstanden werden darf, wie Brunner
und die Tagungsmajorität vom Vorjahr gemeint hatten. Schrenk antwortete: „Gewiß.
Aber das Neue steht in unauflöslicher Kontinuität mit dem Alten, so wahr die Kirche
weiter das Alte Testament liest und nicht in der Luft hängt, sondern in der Wurzel
des Ölbaums gründet. Weil die Offenbarung, aus der der Jude kommt, im Christus
Gottes mündet, ist das Genannte (Schrenk hatte zuvor von den sog.
heilsgeschichtlichen Vorzügen Israels in Röm 9,4-5 gesprochen) nicht nur ein WAR,
sondern ein IST, das dauernd in die Gegenwart hinein wirkt.“ Schrenk hatte bei der
Veröffentlichung seines Vortrags (Zürich 1943) die Worte „WAR“ und „IST“ in
großen Buchstaben drucken lassen und damit den Bezug auf den Streit von 1941
sinnenfällig zum Ausdruck gebracht. Als neutestamentlicher Exeget hatte er damit
Barths Auffassung von Joh 4,22 Recht gegeben – ob im gleichen Sinne, bleibe hier
dahingestellt.
Da wir es in Bezug auf das Johannes-Evangelium vor allem mit einer schrecklichen
antijüdischen Wirkungsgeschichte zu tun haben, liegt mir an einem Beispiel dafür,
daß die Kirchen-Geschichte nicht nur ein „Mischmasch von Irrtum und Gewalt“ ist,
wie Goethe meinte. Sie kann einem, manchmal jedenfalls, auch die Augen öffnen.
Dieser Wipkinger Vorgang in den Jahren 1941/42 – bisher m.W. in keiner
Kirchengeschichte verzeichnet – hat in meinen Augen gerade in seiner Verbindung
von exegetischem Streit und kirchlich-politischem Hilfswerk großen Glanz, weil er
Bedingungen des Bibellesens, Bedingungen der Exegese schlagartig beleuchtet.
Bei Johannes steht in der Tat hæ sôtæria ek tôn Ioudaiôn estin: Das Heil kommt von
den Juden. Eine theologisch durchaus qualifizierte Mehrheit stellt diesen klaren
Wortlaut aus übergeordneten Gründen zur Disposition; sie kann post Christum
natum Israel, die Juden, so hoch unmöglich mehr schätzen. Wohl ist man sich einig,
Judenchristen zur Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland zu helfen,
aber diese praktische Hilfsbereitschaft verändert doch nicht die tiefe theologische
reservatio mentalis gegen die Hilfsbedürftigen. Gut denkbar ist nun umgekehrt für
jemanden, der Barth kannte, daß für ihn im Hintergrund des theologischen Streits
zugleich die praktische Frage stand, ob das johannäische Präsens mit der Hilfe für
Judenchristen nicht zugleich auch ebensolche Hilfe für nichtchristliche Juden fordere
– während die Umdeutung des Präsens in die Vergangenheitsform womöglich jene
praktische Beschränkung lediglich auf Judenchristen legitimieren wollte, für die
Christus zum Ende der Tora geworden war.
Barths Exegese enthielt öfter ein heimliches Politikum. Und jedenfalls ist es immer
ein Politikum, wenn die Bibelauslegung zum Wortlaut zurückgepfiffen wird; das ist
immer Reformation, und die hat Barth damals mit seiner ultimativen Haltung, nur
ein kleines Hilfszeitwort betreffend, vollzogen: æn oder estin?
Ich jedenfalls fühle mich diesem Zürich-Wipkinger Ereignis in meinem Denken
verpflichtet, dem Inhalt wie den methodischen Voraussetzungen oder Implikationen
nach, die hier zutage traten.
II.
Und zwar dies um so mehr, je mehr der Wipkinger Streit durchaus ein johannäisches
Ereignis genannt werden kann. Um Jesu willen entstand da eine Spaltung nun auch
im christlichen Gottesvolk, wie Johannes zuvor aus dem jüdischen Volk mehrmals
zu berichten weiß.
Ich stimme Ekkehard Stegemanns Wort von der Ambivalenz im vierten Evangelium
zu, u. zw. nicht nur in der „Beziehung der Jesusanhänger zum Judentum“, sondern
auch sonst. Johannes hat durchgehend etwas Doppelbödiges. „Zweifellos ist in
diesem Buch die Spannung zum Judentum viel stärker betont als in den anderen
neutestamentlichen Schriften“, urteilt David Flusser (Entdeckungen, 115f)3.
Doch
zugleich nennt er es „ein Evangelium, das sich ganz auf Juden konzentrierte, das für
Juden geschrieben wurde und das der Vorstellungswelt eines Juden entstammt,
dessen Nationalismus denjenigen Jesu bei weitem übertraf“ (ebd., 129)4.
.
Aber was sagt diese Ambivalenz uns? Das ist wohl die Frage unseres
Beisammenseins. Ich bin leider kein historischer Exeget und kann mich darum an
literarische und historische Fragen nicht wagen. Nur als Hermeneutiker getraue ich
mich mitzureden. Johannes mutet uns ja schreckliche Aussagen zu: z.B. das
Teufelswort von Menschenmord und notorischer Lüge in 8,44, über das Ekkehard
Stegemann sprach. Die pauschalierende und idealtypisierende Rede von ‚den Juden’;
deren Ontologisierung zum Schlechten: Sie können nicht anders, so sind sie geboren.
Die Unterwerfung der Väter Israels und der Schriften unter den Seinsprimat Jesu:
„Ehe Abraham ward, bin ich“: die Mordkonsequenz im Bild von den gegen Jesus
handelnden Juden. Micha Brumliks Entsetzen über diese große Judäophobie, die
Angst vor den Juden im ganzen Evangelium: Ausdruck seines Konventikelgeistes.
Schrecklich: diese Aussagen.
Aber „Aussagen“ sind eines. Das Sprechen des Evangelisten etwas anderes, vielleicht
sogar etwas ganz anderes. Eine solche Unterscheidung wird mir persönlich immer
wichtiger, und ich möchte versuchen, indem ich von dem spreche, was man – in
meinen Augen allzu abstrakt-begrifflich – die „Christologie“ des
Johannesevangeliums zu nennen pflegt, mich nicht länger zu den „Aussagen“,
sondern zum Sprechen des Johannes zu verhalten.
Ich wurde ja eingeladen, unter der Überschrift „Deine Sprache verrät dich“ über das
Christusverständnis des Johannes nachzudenken.
Leider habe ich gegen das Matthäus-Zitat im Titel meines Vortrags nicht rechtzeitig
protestiert; ich sagte zu, ehe ich wußte, was ich zu Johannes sagen wollte und müßte.
In meinen Prolegomena zur Dogmatik steht das Matthäus-Wort über einer
Auseinandersetzung mit glatt antijüdischen Unter- und Obertönen in der Sprache
heutiger Theologen. Den Vorwurf eines ähnlichen ‚Verrats’ habe ich noch nie
gewagt, gegen einen der biblischen Zeugen erster Hand zu erheben; denn auf ihrem
Grund stehen wir – können wir freilich auch fallen. Aber ich kämpfe bisher noch auf
ihrem Grund ums Stehen gegen ein weiteres Fallen und tue mich – das sage ich
freimütig – schwer mit der für mein Verständnis zu selbstverständlich im Schwange
gehenden methodischen Möglichkeit der „Sachkritik“. Das mag eine allzu
persönliche konservative Hemmung sein, und ich weiß ja, wo auch ich mich
sachkritisch zur Bibel verhalte. Aber mir fällt dies schwer und nicht leicht. Denn
stärker bewegt mich immer das Zagen [?]: Hast du’s denn wirklich schon
verstanden, was sie damals – nicht nur allenfalls gemeint, sondern in ihren Worten –
mit ihrem Aus- und Einatmen – mit ihrer unverwechselbaren Stimme gesagt haben?
Aussagen, die wir als religionsgeschichtliche „Vorstellungen“ oder als theologische
Lehrmeinungen diskutierten, sind immer etwas, was wir herausgebrochen haben
aus dem Fließen und Atmen des biblischen Sprechens, sind Sinnfragmente, von
denen ja noch gar nicht ausgemacht ist, ob sie auch nur als Form, geschweige denn
als zerstreute Funken von Inhalt, der Mikra auch nur von ferne entsprechen: dem
Rufen und Gerufenwerden der Botschaft in diesen Schriften. Ich bin in meinem
Bibellesen je länger je mehr beeindruckt von der Bibelhermeneutik von Franz
Rosenzweig und Martin Buber, von Kornelis H. Miskotte in Holland und seinem
Schüler Frans Breukelman in Amsterdam. Zwar geht die Unterscheidung von
Aussage und Sprechen auf mein Konto, aber ich glaube, daß sie für das
Verstehenwollen ein bißchen helfen könnte. Die Bibel läßt ihre Botschaft nicht nur an
ablösbaren Inhalten hören, sondern an der Form ihres Gesprochenwerdens, mit der
sie unlösbar eines ist, auf Gefahr des Mißverständnisses hin.
Von den genannten Lehrern bin ich – freilich laienhaft – auch in den Talmud
getrieben worden. Und nun behaupte ich gar nicht, Johannes ließe sich vielleicht
besser begreifen, wenn man ihn talmudisch begreifen könnte – das nicht; wohl aber
meine ich: laßt uns über die Theologie und Historie des Johannes erst
weitersprechen, wenn wir auf sein Sprechen und in dem jüdischen Wesen seines
Sprechens auf seine Botschaft versucht haben zu lauschen, hören. So verwandelt sich
mir das Motto „Deine Sprache verrät dich“ in die Frage: Was verrät mir, Johannes,
deine Sprache?
III.
Da ich von der Christologie sprechen soll, beginne ich gerne mit dem sog. Prolog. Ihn
höre ich freilich nicht nur als den Prolog des übrigen Evangeliums, sondern vor
allem auch als den ersten Teil einer zweiteiligen Ouvertüre, die dem
Johannesevangelium voransteht und deren zweiten Teil nach dem Prolog 1,1-14 der
übrige Text des 1. Kapitels bildet. Die unauflösliche Verflechtung der Prolog-
Erzählung vom „Wort“ mit der Erzählung von einem Menschen, genannt Johannes,
ruft nach dem Zusammenhören der weiteren, sich unmittelbar an den Prolog
heftenden Erzählungen vom Zeugnis und Ruf des Johannes in 1,15-28. Und das
Zeugnis des Johannes wiederum wird in 1,29-37 unmittelbar verknüpft mit der
Berufung der ersten Jesus-Jünger in 1,38-51. Und dann erst beginnt in 2,1 mit der
Hochzeit zu Kana der ‚Anfang der Zeichen, die Jesus tat und offenbarte seine
Herrlichkeit’ (2,11).
Diese zwei Teile der einen Ouvertüre vor dem ganzen Evangelium können wir mit
zwei hebräischen Grundworten benennen: mit Davar [Wort] den Prolog, mit Schem
[Name] die folgenden Abschnitte. Zwar weiß ich nicht, ob man den griechischen
Text hebräisch hören muß, aber man kann ihn – mindestens so gut, wie David Flusser
es von Lukas sagt – hebräisch hören. Ich persönlich halte es für einen Schaden, daß
die Kommentatoren dies so wenig getan haben. Es könnte sein, daß dadurch
manches, was Johannes sagt, von uns Theologen un-erhört blieb.
Dabei ist es fast unmöglich, Johannes zu lesen, ohne auf das Stilprinzip des Leitwortes
zu stoßen, das Buber und Rosenzweig als ein wichtiges Element der „Sprache der
Botschaft“ herausgearbeitet haben. Allerdings erscheint es so exzessiv, wie es
Johannes zu gebrauchen scheint, nicht einmal in der Genesis verwendet, woran
Buber-Rosenzweig sich seine Bedeutung besonders klar gemacht haben. Aber das
Gesetz, daß wir am Leitwort erkennen, was die Botschaft rufen will, dürfte auch für
den 4. Evangelisten gelten.
Im Prolog dürfte es demnach eindeutig um das haja des davar gehen: das Geschehen,
Sich-Ereignen des Wortes.
Wort, davar ist überall in der hebräischen Bibel ein Geschehensbegriff, ehe es dann
auch ein Seinsbegriff ist; es sagt etwas, ehe es etwas besagt. Daß es erklingt, ist
immer neu ein Ereignis, unberechenbar, unvorhersehbar. Das Wort geschieht. Das
gilt für Menschenwort so, weil es zuvor für das Reden Gottes gilt. Wort ist nie
folgenlos, es ist Tat-Wort – „So er spricht, so geschiehts, so er gebietet, stehts da“ –,
und Sinn eröffnet Wort, indem es in die ihm eigene Handlung hineinreißt und einen
Hörer daran beteiligt. Der aber bleibt notwendig beim Hören nicht Hörer allein,
sondern wird Täter des Wortes. Der Logos des Johannesevangeliums ist dieser davar
der Botschaft. Und von ihm ist nicht zuerst sein Sinn, sondern sein Geschehen
auszusagen: sein haja.
Nun sind Hilfszeitworte, in die wir haja übertragen, die gefährlichsten Hindernisse
für ein Verstehen der biblischen Sprache. Was das Wort alles „war“ und alles „ist“,
hören wir unter dem Hilfszeitwort-Zwang unserer Sprache meist unwillkürlich wie
ontologische oder philosophische oder sonstwie ‚Wesen’ identifizierende
Seinsbestimmungen. Dabei könnten wir auch schon am griechischen Text entdecken,
daß es so nicht gemeint ist, wenn wir nur ein zweites, fundamental wichtiges
Stilelement des hebräischen Sprechens auch bei Johannes erkennten: den
parallelismus membrorum. Dann könnten wir z.B. hören, daß der, der in 1,4 das
Licht „war“, im Parallelismus v.5 benannt wird als der, der als Licht „scheint“. Da
wird ganz deutlich das Hilfszeitwort nicht (wie es in Vieler Ohren bei uns klingt) als
ein identifiziertes Sein (ist) oder Gewesensein (war), sondern als das Ereignis und
Geschehen des „Scheinens“ ausgerufen: das Sein im Wirken, im Werk, in der tätigen
Verwirklichung.
Genau dies aber ist die Struktur des hebräischen Wortes haja. Oft wird es mit ‚ist’
oder ‚war’ usw. übersetzt. Aber während unsere Hilfszeitworte die Dinge festsetzen
wollen im Sein oder Gewesensein (oder auch in ein Werden), spricht haja nur von
einem dynamischen Geschehen, einem Sich-Ereignen, in unserem theologischen
Jargon: von einer fundamentalen Geschichtlichkeit des Seins. Bewegungen kommen
nicht zusätzlich zu einem seienden Wesen dazu, als irgendein Attribut, eine von
weiteren Näherbestimmungen. Dinge, Menschen, Beziehungen – alles, wovon wir in
der Hilfszeit des Seins, Gewesenseins, Werdens sprechen – sind von Hause aus in
zeitlicher Bewegung: kommen, scheinen, leuchten, rufen, sprechen, bezeugen, stoßen
an, erwidern, schaffen, zerstören und dergl. mehr.
In diesem Sinne hören wir im Johannesprolog vom Geschehen des Wortes, vom haja
des davar; und was immer von Jesus, seinen Freunden, Gegnern, Vorgängern,
Nachfolgern weiter erzählt werden wird: Wir sollen es von vornherein begreifen als
das haja des davar.
Dies ist ein Grundgeschehen. Es liegt allem, was geschieht, zugrunde. Es ist kein
separates Geschehen neben anderen Ereignissen, ist vielmehr das Ereignis in allen
Ereignissen: des Lebens Jesu, des Lebens seiner Lieblinge, seiner Gegner. In allem
ihrem Handeln und in ausnahmslos ihrer aller Handeln ereignet sich haja des davar.
Grundgeschehen ist es darin, daß es ein Geschehen be reschit [im Anfang] ist. Be
reschit haja ha davar [Im Anfang geschah das Wort]. Wer ein hebräisches Ohr hat,
dem ist es unmöglich, hier nicht das erste Wort der Hebräischen Bibel mitzuhören:
Be reschit bara elohim [Im Anfang schuf Gott]. Der Johannesevangelist beginnt sein
Evangelium damit, daß er neben das bara von elohim das haja des davar in den
Anfang, be reschit, stellt. Wie Gottes „Schaffen“, so ist Gottes „Reden“ des davar
Ursprungsgeschehen, eins dem andern gleich ursprünglich. Das bara durch elohim
geschah darin, daß er sprach, es war davar-Geschehen: Er sprach – es geschah. Und
eben gleiches davar-Geschehen ereignet sich wie in der Schöpfung, so in der Jesus-
Geschichte und in der Aller, die mit ihm zu tun bekamen im Guten wie im
Schlechten.
In den ersten beiden Versen des Prologs erleben wir ein Drama der Richtigstellungen
und wohl die Urform johannäischer Ambivalenz. Ve ha davar haja et ha elohim, und
der davar war bei Gott: ihm nahe, zu ihm hin. Genügt das? Ach, lautet ein Einwand,
mehr noch: velohim haja ha davar, Gott war das Wort. Wie denn? „Gott von Art”,
oder hu, er selbst, Gott? Nein, lautet das nächste Widerwort: hu haja be reschit ezel
ha elohim, eindeutig pros ton theon, ihm zugeordnet, auf ihn hin ausgestreckt,
Beigeordneter Gottes.
Aber bloß jetzt nicht, wie Michael Brumlik meint, ‚prätrinitarische’ Experimente!
Denn nicht Seinsverhältnisse werden definiert, sondern haja, ein Geschehen,
Geschichte wird erzählt, oder Strukturen von Geschichte gegeben. Also Prozesse des
Verhältnisses von davar und elohim werden erzählt, besser noch: beider Verhalten
in ihren Beziehungen zueinander. Johannes denkt garnicht daran, eine
Wesenseinheit von Gott und Wort zu behaupten. Er erzählt ein bewegtes Hin und
Her einer offenen geschichtlichen Beziehung, die wir am besten als ein ewiges
Geschehen von Sich-einen von Gott und Wort, des Wortes mit Gott benennen. Und
da kann es wohl einmal heißen: velohim haja ha davar; aber vorher heißt es offener:
haja et ha elohim, Wort, das sich auf Gott hin offenhält, und danach heißt es: ezel ha
elohim, pros ton theon. Dies vor und nach dem Sprechen der Einheit ist das Sprechen
der Offenheit in der Beziehung von Gott und Wort. Es ist strukturgebend für alles,
was über das Verhältnis Jesu zu Gott und Gottes zu Jesus im Evangelium gesagt
wird, wie wir noch weiter zeigen und sehen müssen. Keine Identität, sondern
offenes haja eines Prozesses des Sich-einens. – ‚Sich-einen’: ein Begriff, den Hermann
Cohen, den auch Leo Baeck als den ethischen Sinn des jüdischen Monotheismus
dargetan haben. Der eine Gott ist Gott, mit dem Israel ‚sich eint’, indem Gott mit
Israel ‚sich eint’: Bundesgeschehen, Verbindungsgeschehen: ve ha davar haja et ha
elohim, und ohne das kein velohim haja ha davar.
So hören wir Johannes sprechen.
Hören wir ihn weiter.
Ein zentrales Wort seiner Christus-Erkenntnis ist zu einem Grundwort aller
dogmatischen Christologie geworden: 1,14: kai ho logos sarx egeneto. Wenn
Johannes das sagt, atmet er ein, er atmet aber auch wieder aus, und im Ausatmen
sagt er: kai eskænôsen en hymin. Und holt dann noch einmal Luft und sagt ein
Drittes: kai etheasametha tæn doxan autou. Ein dreigliedrig zu schreibendes Wort;
haben wir es kolometrisch vor Augen, sehen wir: Johannes hat einen parallelismus
membrorum gebildet. Erstes Glied: „Das Wort ward Fleisch“. Zweites Glied, dem
ersten zugeordnet: „Und es zeltete unter uns“. Dies ist der Parallelismus
membrorum, aber kein antithetischer, sondern ein auslegender: im zweiten Atemzug
sagt Johannes dasselbe noch einmal anders, was er beim ersten schon gesagt hatte.
Also: „Das Wort ward Fleisch“. Wie soll man das hebräisch sagen? Die Sache ist als
Aussage jüdisch zu unerhört. Man kann es nicht sagen: Ha davar nihjah basar? Wer
möchte so reden? Doch, sagt Johannes, man kann es durchaus jüdisch sagen: va
jischkon betokhenu, er schlug sein Zelt auf in unserer Mitte. ‚Das Wort ward Fleisch’
spricht vom schakhan Gottes betokhenu. Denke, sagt Johannes, ans ohel moëd, ans
Zelt der Begegnung, aus dem in Israel das Errichten der Wohnung Gottes durch
Mosche wurde. Und denke, sagt Johannes, wenn du späteres Jüdisch auf der Zunge
hast, an die schekhina, die begleitende, mitreisende Daseinsweise Gottes, die das
Wort schakhan, wohnen, in sich hat und oft mit „Einwohnung Gottes“ übersetzt
wurde, nicht ganz gut, und bei dem ein griechischer Jude unwillkürlich (von den
Radikalen schin, kaph, nun her) schekhina = eskænôsen mithören muß. Vor allem
denke, sagt Johannes, wie es nur z.B. am Ende des Buches Schemoth (Exodus) lautet:
„Die Wolke bedeckte das Zelt, und die kavod, die Herrlichkeit des Herrn, erfüllte die
Wohnung“ (Ex 40,34). Da haben wir das „Zelten“ und „Wohnen“ und die
„Herrlichkeit“ unseres dritten Gliedes: Und wir sahen seine Herrlichkeit, doxa,
kavod.
Nun ist kavod ein ungemein starkes Wort, das Glänzende, aber auch
Schwergewichtige Gottes selbst benennend. Immerzu spricht Johannes es aus: von
seinem Prolog her, quer durch das Evangelium verteilt immer wieder, welche doxa
zwischen Jesus und seinem Vater herrscht. Und freilich liebt unsere dogmatische
Gesinnung und Gewöhnung, in den vielen Verherrlichungsworten des
Johannesevangelisten Beweise für ein Gotthaftes an Jesus festzumachen: „Gleicher
Macht und gleicher Ehren“: gleicher doxa.
Doch nun möchte ich rechten mit unseren Lexikographen. Kittel z.B. hat im
Kittelschen Wörterbuch für die griechische doxa und das griechische doxazein nur
ein hebräisches Wort gehört und gewußt: das starke kavod, und hat darum auch
Gerhard v. Rad im alttestamentlichen Teil nur über kavod schreiben lassen. Ich
wittere darin ein dogmatisches, christologisches Vorurteil. Die griechische
Übersetzung der Hebräischen Bibel, das Buch der Siebzig, sagt doxa und doxazein
auch noch für ganz andere hebräische Worte, darunter vor allem für ein anderes:
piër, verherrlichen, hitpaër, sich verherrlichen, und tipheret – mit gutem
Vorkommen in der hebräischen Bibel; Buber übersetzt es so konstant wie möglich
mit „Prangen“. Z.B. Jes 55,5: „Um SEINER, deines Gottes willen, / des Heiligen
Jißraels“ willen eilt manch ein Stamm herzu, der dich, Israel, nicht kannte, „denn er
läßt dich prangen“, er „verherrlicht“ dich, übersetzt die Zürcher Bibel. Oder Jes 60,9:
Von der Ferne her will Gott die Söhne heimkommen lassen: „Um SEINES, deines
Gottes Namen, / um des Heiligen Jißraels, / denn er läßt dich prangen“, und so,
hieß es in Vers 7 schon: beim Kommen der Söhne Israels „lasse ich prangen das Haus
meiner Pracht“. Ähnlich in Ps 149,4: „Denn ER begnadet sein Volk, / die sich
Beugenden läßt in der Befreiung er prangen“. Nur eine Stelle noch, für uns wichtig:
Jes 49,3: Du bist mein Knecht, durch den ich ‚mich verherrliche’: Avdi attah, Jißraël,
ascher becha etpa'ar, Buber: „Jißrael du, mit dem ich prangen darf“. Wenn kavod
eine Herrlichkeitsweise Gottes ist, dann tipheret sein Prangen im weltlichen
Geschehen, den Beugungen, aber auch dem Heimkehren, der Befreiung seines
Volkes und, kein Attributenaustausch, keine Wesensabgabe von Gottes gloria an
Gottes Knecht; der bleibt ein Gebeugter. Gott läßt Israel hier und da prangen vor den
Augen der Völker, und wenn das geschieht, dann geschieht’s, daß auch ER, Gott,
prangen darf in seinem Prangen – ebenfalls vor den Augen der Weltstämme, wenn
sie das erleben. Also: va necheseh tipharto ke tipheret, kai etheasametha tæn doxan
autou (nicht kavod, sondern tipheret): Wir sahen sein Prangen, als er unter uns
zeltete. Und das eben heißt jüdisch-biblisch gedacht, was zuvor jüdisch-biblisch
unmöglich, nur christlich möglich gedacht hieß: „Und das Wort ward Fleisch“.
Dazu zwei Bemerkungen.
1. Das Sprechen des Johannes ist ein zweisprachiges Sprechen. Er spricht in einem
Atemzug christlich, was er in einem nächsten Atemzug jüdisch ausspricht. Er hat
auch sonst, wie (soweit ich sehe) kein anderer Evangelist eine Leidenschaft des
Übertragens in andere Sprachen. Nur er erklärt, die Kreuzesüberschrift sei
dreisprachig – auf hebräisch, lateinisch und griechisch – angebracht gewesen (19,20);
die anderen Evangelisten wissen davon gar nichts. Auch sonst eilt er zwischen den
Sprachen hin und her, erklärt seinen Hörern, daß der Stuhl des Pilatus an einem Ort
namens Lithostrôton gestanden habe, auf hebräisch aber Gabbatha (19,13), – oder
daß der, den wir griechisch als Petrus kennen, hebräisch Kephas heiße. Meist aber
übersetzt er aus dem Hebräischen ins Griechische: daß der Messias der ist, den man
als Christos kennt (4,25), – daß der Teich am Jerusalemer Schaftor auf hebräisch
Bethesda heiße (5,2), – daß ein anderer Teich auf hebräisch Siloah, auf griechisch
aber apestalmenos, ‚Abgesandter’, und daß Rabbi Lehrer heiße. U[nd] s[o] w[eiter].
Kleinigkeiten? Vielleicht. Doch auch Zeugnis für einen Willen zur Mehrsprachigkeit,
vor allem dafür, daß die Gojim auch hebräisch lernen sollen. Und dies doch ein nicht
unwichtiges sprachliches Indiz für das, was wir die Ambivalenz des Johannes
nannten; seine Ambivalenz ist auch Mehrsprachigkeit, und diese nicht nur
philologisch, sondern auch theologisch gemeint.
2. und wichtiger: Der parallelismus membrorum von Joh 1,14 zeigt uns, daß (mit
Goethe) ‚im Atemholen zweierlei Gnaden’ hörbar werden: die in der Gestalt der
„Fleischwerdung des Wortes“, – die in Gestalt des göttlichen „Zeltens“ unter uns,
die aber in beiderlei Sprachgestalt von dem einen Prangen Gottes vor den Augen der
Stämme Botschaft geben und die in 1,15 noch einmal in weiteren zwei Atemzügen
wiederholt wird, wenn es zuerst heißt: Eine tipheret wirke da, wie sie der
„Einziggeborene“ vom Vater hat; und wenn es danach urbiblisch heißt, dies sei Fülle
von chesed ve emet, sei emet ve emuna gewesen, plæræs charitos kai alætheias – auf
griechisch klingt das schon gar nicht mehr so gut wie auf hebräisch: rav chesed ve
emet.
Ich werde mich hüten, den Parallelismus nun sogleich dogmatisch auszuschlachten.
Alles wäre verdorben, wollte ich jetzt einen Lehrsatz bilden: Die Rede von der
Fleischwerdung des Wortes sei womöglich „nichts anderes als“ (eine beliebte
Theologenphrase der historischen Kritik, klassisch in Feuerbach geworden) die Rede
vom Zelten Gottes inmitten Israels. Gerade solche gojischen Identifizierungen
verlerne ich, und möchte stattdessen lernen, zu hören und meine Zuhörer hören zu
lassen, was in der Sprache zusammenklingt und von einer identifizierenden Aussage
nur allzu grob bedrückt und zum Verstummen gebracht würde. Ich versuche, meine
Theologie umzudenken vom fixierten und fixen Lehren auf ein Hören und Lernen.
Das allein erlaubt mir heute noch, ein christlicher Dogmatiker zu sein.
Nur das Wort „Inkarnationslehre“ geht mir bei Joh 1,14 nun wirklich nicht mehr so
leicht von den Lippen; ‚Inkarnation’ klingt viel zu einschichtig und besetzt, als daß
damit das Sprechen des Botschafters Johannes zu hören wäre. ‚Aussage’ wäre es
wohl, aber nichts Gehörtes, – ‚gelehrtes’ Zeug, aber nichts Sprechendes. Keine Gott-
Mensch-Einheit in der Fleischwerdung des Wortes, sondern Geschehen ihrer offenen
Einung, – ein Zusammentreffen beider, wie im ohel moëd, im Zelt des Zeugnisses,
das auch ein Zelt der Begegnung heißt: Geschehen von Begegnung also.
Ich eile weiter. Neben dies Beispiel eines haja des davar im Sprachlichen – ich meine:
in der tiefen Doppelsprachlichkeit des Johannes – gehört nun ein Hinweis auf das
haja des davar in dem, was geschichtlich-weltlich geschieht.
Ha am ha holekhim ba choschek ra'u or gadol (Jes 9,1): „Das Volk, das im Finstern
wandelt, sieht ein großes Licht“: kai to phos en te skotia phainei, ve ha or be
choschek sarach, oriri, exoriri [leuchten, aufsteigen]. Das Licht geht auf in der
Finsternis. Müssen wir denn einen gnostischen Dualismus bemühen von Licht und
Finsternis, wenn wir einen in Qumran, unten im Jordantal, näherliegen haben; ja viel
mehr: wenn wir einen in Galiläa, im galil ha gojim, viel näher liegen haben, wo – von
Jerusalem aus gesehen – einst ein Volksteil im Finstern der nordöstlichen
Besatzungsmacht Assyrien wandeln mußte und Jesaja, der Prophet, ihnen – und
zwar von Jerusalem her – ein großes Licht aufgehen lassen, ankündigen durfte?
Gewiß ist Finsternis etwas Mächtiges und wohl auch eine Macht. Aber längst nichts
mythisch Gefestigtes mehr, denn das Licht geht ja auf in der Finsternis.
Wie denn? Va jehi. Und es geschah. Egeneto. Haja des davar auch jetzt. Was
geschah? Anthrôpos, isch – ein Mensch. Was für ein Mensch? Apestalmenos para tou
theou, schaluach me'et ha elohim – u schemo Jochanan, onoma autou Ioannæs, den
Namen Jochanan hatte man ihm gegeben. Dies egeneto anthrôpos ist Wirken, haja
des davar, und zwar gleichbedeutend mit dem Aufgehen von Licht in der Finsternis,
in der Tiefe der Historie.
Für den 2. Teil der Ouvertüre nannte ich das hebräische Grundwort schem, Name.
Einerseits hängt dies mit der überragenden Bedeutung zusammen, die Name im
biblischen Wirklichkeitsverständnis überall hat. Immer ist in der Sprache der
Botschaft die Geburt eines Menschen erst im kalein to onoma, im qara schemo
vollendet. Sie, die Frau, wird einen Sohn gebären, kai kaleseis to onoma autou
Iæsoun (Mt 1,21). Und er erkannte sie nicht, bis sie einen Sohn geboren hatte; und er
gab ihm den Namen Jesus (1,25). Das ist überall in der Bibel so, und es entspricht
dem, daß auch Gottes bara, das durch sein Sprechen sich vollzieht, erst getan ist,
wenn auch erzählt werden kann, z.B. Gen 1,5: va jiqra elohim la'or jom, ve
lachoschek qara lajlah: Und es rief Gott dem Licht: Tag, und der Finsternis rief er:
Nacht. Will sagen: Erst im Namen ist etwas, ist jemand wirklich da in der Welt, tritt
er aus der Anonymität des nackt physischen Vorhandenseins in die gesellschaftliche
Offenheit der Kommunikation, wird er ansprechbares und sprechendes Wesen.
Indem isch, schaluach me'et ha elohim, auch unter seinem Namen nennbar gemacht
wird: u schemo Jochanan, onoma autou Ioannæs, tritt er in die wirkliche Geschichte
ein, geht Licht auf in der Finsternis. Das ist der eine Grund.
Der zweite ist, auf dem Hintergrund dieses ersten, wichtiger. Dieser Jochanan und
dann auch die von ihm auf Jesus aufmerksam gemachte Kette von Jüngern kreisen
alle um das Geheimnis des Namens Jesu.
Mi attah? Sy, tis ei? müssen Priester und Leviten, gesandt von den Juden Jerusalems,
den Täufer fragen (1,19). Wie können, müssen wir dich einordnen?, wie können wir
dich kommunizieren? Er bekennt sich, antwortend, als Nicht-Ich in bezug auf den
Christos, als Nicht-Ich in bezug auf den Elia, als Nicht-Ich in bezug auf irgendeinen
Propheten; das hören wir in 1,19-24; ich glaube: sehr wohl erwogen. Sein Nicht-Ich,
mit dem er sich der gesellschaftlichen Identifizierung entzieht, bezeugt Namen eines
anderen. Zuvor bereits, 1,15, hatte Jochanan einen anderen bezeugt: va jiqra lemor,
und er rief folgendermaßen: qara schemo, Jochanan wird zum Rufer des Namens
Jesu.
Aber – und das ist der Sinn des 2. Teils der Ouvertüre – den Namen sagte er nicht.
Statt dessen ruft er Geschehen aus, ein Kommen: Nach mir kommt einer, der vor mir
„gewesen“ ist, also: der vor mir schon haja, wirkte: habba acharai ascher hajah
lephanai, ki kodem-li haja.
Am folgenden Tag (1,29) sieht er Jesus auf sich zu kommen, und jetzt sagt er: hinneh,
ide: „Lamm Gottes“. Auch kein Name – eine Ankündigung von haja, Geschehen.
Noch einmal ein folgender Tag (1,35). Jochanan blickt auf Jesus, wie er umherging,
wieder sagt er: hinneh (= Aufmerksamkeitserreger der hebräischen Sprache), „Lamm
Gottes“. Das setzt die Kette der Jüngerfindung in Gang, und die vollzieht sich durch
ständiges Weitergeben von Benennungen Jesu, die doch seinen Namen nicht hören
lassen. „Wir haben den Messias gefunden“ (1,41), sagt Andreas zu seinem Bruder
Simon. Jesus sieht ihn an, und das erste, was geschieht: Er nennt ihn bei seinem
Namen: Du heißt Simon bar Jona, lecha jiqra Kepha, sy klæthæsæ Kæphas (1,42);
Jesus ruft, indem er ihn bei einem neuen Namen ruft, den Simon in ein anderes
gesellschaftliches Kommunikationsverhältnis.
Wir haben den gefunden, von welchem Mosche in der Tora geschrieben hat, sagt
Philippus, indem er Nathanael findet. Wen denn? Und nun erst der wahre deutliche
Name Dieses Gefundenen: Jeschua ben-Joseph minezaret, Jesus, Josephs Sohn, aus
Nazareth.
Das Quis, mi attah, wer bist du, wird in der Bibel sehr oft durch das Unde: von woher
bist du? bestimmt. Darum ist die Problematisierung des Herkunftsortes: „Was kann
aus Nazareth Gutes kommen?“ auch immer ein Stück Problematisieren des Namens,
nämlich im Sinne der Kommunikationsmöglichkeiten.
Danach geht es weiter. Du bist der Sohn Gottes, du bist der König Israels. Eine ganze
Skala möglicher Namen Jesu im 2. Teil der Ouvertüre. Der einzig mögliche und
wirkliche Name in der Mitte: „Jesus, Sohn Josephs, aus Nazareth“. Und dann wieder
anderes.
Aber dieses ganze Suchen, Finden und Wieder anders-Ausprobieren des Namens
Jesu – und also das Grundwort: schem – bleibt zu Diensten des haja des davar. Bis
auf den Namen, den er heißt, werden lauter Namen genannt, unter denen andere ihn
sich kommunizieren (die schrecklich so genannten „Hoheitstitel“), und dies alles
sind nicht Nenn-Namen, sondern Ereignis-Namen für Jesus. Jesus selbst nimmt dies
am Ende der Ouvertüre auf mit einem Ereignis-Motiv, das mehr als einmal nach der
Ouvertüre im Evangelium auch wiederkehren wird. Nathanael hatte ihn „Sohn
Gottes und König Israels“ genannt, Bekenntnis-Namen, die alles Mögliche in Jesus
hineingeheimnissen. Jesus verhält sich aber dazu, wie im ganzen Evangelium, indem
er über das, was allenfalls in ihm haja des davar sein kann, hinausweist: „Größeres
als dies wirst du sehen. Amen, Amen, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel offen
und die Engel Gottes auf und nieder steigen sehen auf den Sohn des Menschen“
(1,51) – das ist das letzte Wort der Ouvertüre. Es führt vom Namen weg auf
„Größeres“, Eschatologisches, Zukünftiges. Und von dem Namen, der da allein
infrage kommt, nämlich ‚Sohn des Menschen’, spricht auch der johannäische Jesus,
wie der synoptische, nur (exklusiv) in der dritten Person: „Ihn“ werdet ihr sehen: er
sagt nicht: mich, – und wie die Synoptiker verbindet auch der johannäische Jesus ein
eschatologisches haja mit Dieser Drittperson. Ich kann überhaupt nicht erkennen,
daß der 4. Evangelist keine Zukunft mehr kenne. Schon in der Ouvertüre öffnet er
gerade dafür die Augen. Gerade dort, wo es um den schem in der Struktur von haja,
Geschehen, geht, öffnet Jesus selbst alles auf „Größeres als dies“, meizô toutôn opsæ
(1,50): gedolot me'elleh tireh.
IV.
Gut wäre es nun, die Motive der Ouvertüre jetzt auch im Werk zu verfolgen und so
die Bezeichnung Ouvertüre zu begründen. Diese Zeit fehlt; ich kann jetzt nur noch
auf christologisch Überragendes hinweisen, also das, was das Verhältnis von Gott
und Jesus betrifft und wie es uns betrifft.
Vom Täufer Jochanan hörten wir, wie er auf die jüdische Frage: mi attah? mit einer
Kette von Nicht-Ich-Antworten reagierte. So Jesus im Evangelium. Wegen der Kürze
der Zeit muß ich – allerdings widerwillig – systematisieren und spreche darum jetzt
von einer johannäischen Christologie des Nicht-Ich. Daß Jesus in den Reden des
Evangeliums permanent und konsequent von sich fortweist, ist ein so
überwältigender quantitativer Tatbestand, daß wir ihn qualitativ würdigen sollten.
Es handelt sich um eine Struktur.
Eine Struktur hat immer mehrere Struktur-Elemente. Einige versuche ich im
folgenden vorzuführen.
a) Zunächst etwas, was ich eine Grundstruktur nennen möchte, an der wir erst die
Negationen des Nicht-Ich werden verständlich machen können. Ich finde sie nicht
nur, doch vor allem an den Aussagen vom „Verherrlichen“.
Daß wir Jesu Herrlichkeit zu sehen bekommen im haja des davar, wurde uns schon
im Prolog gesagt. Bereits das erste seiner Zeichen – bei der Hochzeit zu Kana – tut
Jesus, um darin seine „Herrlichkeit“ zu offenbaren (2,11). Und so geht’s fort. Doch
hörten wir schon, daß wir nicht an Seinsweisen oder Eigenschaften eines in sich
Herrlichen denken sollen. Tipheret, das Prangen, ist ein Geschehen. Und zwar eins
von Gegenseitigkeit. Wir bekommen es im 4. Evangelium wie in der Hebräischen
Bibel im piel und im hitpael zu hören. Jemand verherrlicht jemanden: Jemand
verherrlicht sich durch etwas oder jemanden. Und natürlich wird auch jemand
durch jemanden verherrlicht.
Als Geschehen wird das Verherrlichen strukturiert, wo wir vom Kommen der Stunde
hören, daß des Menschen Sohn verherrlicht wird, schejephoar ben ha adam (12,23).
„Verherrlichen“ ist ein Zeitgeschehen, ihm schlagen Tag und Stunde, es füllt nicht
alle Tage der Jahre eines Lebens, ‚erfüllt’ mithin nicht ‚die Zeit’, vielmehr ereignet es
sich.
Dies Ereignis kann geschehen zwischen Gott und Jesus, Jesus und Gott allein, aber
auch zwischen Gott, Jesus und Menschen. Es ist ein beziehungsreiches
Verherrlichen.
Zwischen Gott und Jesus allein hat es einen vorzüglichen Ort im Beten Jesu. Avi, paër
et schemekha, Vater verherrliche deinen Namen, bittet Jesus in 12,28. Der Name,
hörten wir, sei sowieso und in sich schon eine Kommunikationsbeziehung.
Anrufung des Namens Gottes ist Ruf nach seiner Selbstvergegenwärtigung. Und die
Bitte um ein hitpaër, ein „Prangen“ Gottes, ist Flehen in einer bestimmten Stunde,
einer, von der es heißt: Jesu Seele sei da sehr erregt gewesen (was ihm nach Johannes
mehr als einmal widerfuhr), und wo die Erregung ihn sprachlos machte: „Und was
soll ich sagen?“ (12,27), mehr noch: wo er rufen mußte: „Vater, rette mich aus dieser
Stunde.“ Also Bethanienstunde, Stunde des seelisch Gepreßten, des Gebeugten.
Genau dahin gehört nach dem biblischen Sprechen das Bitten um ein „Prangen“
Gottes, wie wir schon aus Ps 149,4 vernahmen. Ihm wird Antwort durch die bat qol,
phonæ ek tôn ouranôn, Stimme aus dem Himmel: gam pearti, Ich habe ihn bereits
„verherrlicht“, doch nicht nur das; allein dies „Ich habe“ genügt zur Struktur von
Verherrlichen nicht, sondern ve gam – osiph lepaër (von jasaph, fortfahren,
perseverare): Ich werde fortfahren, ihn prangen zu lassen. In diesem Fortfahren ist
gesagt: Prangen des Gebeugten ist keine vollendete Tatsache, kann es gar nicht sein,
es ist Geschehen in der Zeitzerrung, hat Vergangenheit, hat aber auch Zukunft. Und
nur Gott ist es, der geschehen lassen kann, daß es geschehe.
Dieses jasaph, perseverare, dieses palin doxasô nach dem edoxasa, ist, wenn ich es
recht höre, sogar ein Prinzip bei allem Verherrlichen. 16,14 sagt Jesus: Der Geist
werde ta erchomena verkündigen, das Zukünftige. Und dessen Gehalt wird das sein,
was Jesus sofort anschließend sagt: ekeinos eme doxasei, hu jepha'areni: Er, dieser,
der wird mich prangen lassen. Prangen ist grundsätzlich zukunftsgeladenes,
zukunftshaltiges Geschehen. Jesu tipheret wird sich erst noch herausstellen und
wird dann vielleicht erst seine kavod genannt werden dürfen, sein Glänzen aus dem
Glanz Gottes.
Daß bis dahin alles im Geschichtlichen bleibt, hören wir daraus, daß zum Prangen
doch wie Zeitlichkeit, so Bezüglichkeit zu Menschen gehört. Und zwar Bezüglichkeit,
die nicht die von Beobachtern ist, sondern von Beteiligten. Diese Krankheit führt
nicht zum Tode, sagt Jesus am Totenbett des Lazarus, sondern sie dient zur Ehre
Gottes, damit der Sohn Gottes durch sie verherrlicht wird (11,4). Diese Krankheit ist
die Gelegenheit der Ehre Gottes – hier müssen wir doch wohl wirklich kavod hören
–; diese wirkt aber zielgerichtet: damit der Sohn Gottes durch sie verherrlicht wird
(11,4): eschatologische, zukunftgerichtete Perspektive. Uns interessiert hieran die
Bewegung des Sprechens vom kranken Lazarus zur Ehre Gottes zum Prangen des
Sohnes Gottes. Haja, Geschehen des davar, zielgerichtete Bewegung auch Struktur
beim Verherrlichen, sogar den Leichnam mit sich reißend. Doch damit wir nicht nur
Tote mitgerissen sehen – 15,8: Mein Vater wird dadurch verherrlicht, „daß ihr viel
Frucht bringt“; das bringt die ma'assot, die erga, ins Geschehen des Verherrlichens
hinein, unsere, der Menschen und Jünger Fruchtbarkeit.
Von da aus ist noch einmal rückwärts zu verstehen, wie das Verherrlichen zwischen
Gott und Jesus geschieht. 13,32: Ist Gott verherrlicht in ihm: wir müssen hebräisch
besser hören als Zürich: Hat sich Gott an ihm verherrlicht, so wird Gott ihn auch
verherrlichen – wo? Diesmal nicht vor unseren Augen, sondern auton en autô, ihn in
sich, – wie sollen wir sagen, be azmo (von ezem, Wesen, Selbst, jedenfalls Wort einer
Selbigkeit, ja fast: Identität), ihn läßt Gott in sich prangen, und er wird ihn alsbald
verherrlichen, kai euthys doxazei auton, u bimhera (von maher, eilen) wird er das
tun, eilends. Er wird das tun, weil auch in Gott nicht schon alles getan ist: zu tun
übrig bleibt, – weil auch in Gott Zeitlichkeit wirkt.
Worauf es uns ankommt: Im Verherrlichen geschieht Gegenseitigkeit. Gott
verherrlicht Jesus, Jesus verherrlicht Gott, Gott verherrlicht sich in Jesus. Und im
Verherrlichen geschieht Bezüglichkeit auf die, die das Prangen zu sehen bekamen,
oder auf die, an denen Gott sich und Jesus zum Prangen bringt. Gegenseitigkeit und
Bezüglichkeit sind dasjenige Grundgeschehen, in dem Jesus es möglich wird, ständig
von sich fort auf den hinzuweisen, der ihn gesandt hat. Oder wieder systematisch
kurzgeschlossen: Es ist die Korrelation, die die ständige Selbstnegation möglich macht,
die nur für den Jesus des Johannesevangeliums charakteristisch scheint.
b) Zunächst scheint dennoch alles hybrid anders zu klingen, und sowohl das
Hybride wie das Andersklingende wurden klassisch in der christlichen Christologie.
Ani ve avi anachnu echad (10,30), „Ich und der Vater sind eins“, hen esmen. Und
nun beginnen wir Theologen ganz gojisch zu identifizieren, bis dahin, daß alle Welt
– Juden und Griechen, Philosophen und Gottlose – meinen, wir vergöttlichten einen
Menschen, weil wir es ja wirklich schon so lange tun. Und der Jesus des Johannes
soll dafür stehen.
Ja, er stand schon dafür. Denn schon im Evangelium heißt es ja, die Juden (wer von
ihnen auch immer) wollten ihn steinigen. Und zwar nicht wegen seiner guten
ma'assot – wie sollten Juden einen Juden auch wegen seiner guten Werke angreifen?
–, sondern wegen einer Lästerung, im al gaddefkha et elohim, wegen der Hybris,
weil du, der du ein Mensch bist, dich zu Gott machst (10,33), ve al-ki, adam attah, va
ta'as et azmecha lelohim. Darauf wehrt sich der johannäische Jesus, indem er sich,
wie es sich gehört, auf die Tora beruft, auf Ps 82,6, wo Gott sich hören läßt im Ring
der Gottwesen: „Selber hatte ich gesprochen: Götter seid ihr, Söhne des Höchsten ihr
alle“. Er versteht das so: Wenn die Tora jene Götter genannt hat, an die das Wort
Gottes (der bewußte davar) erging – und die Schrift kann nicht aufgelöst werden,
warum sagt ihr dann von dem, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat:
Du lästerst? (10,35f) Nun mag dieses Argument überzeugen, wen [es] will – der Jesus
des Johannes kennt das Problem, niemand braucht es ihm nachzurechnen. Er löst es
aber auf ungemein jüdische und jeden Christen, der aus der Reformation kommt,
schockierende Weise; er macht nämlich seine Werke zum Kriterium und verbindet
sie mit einem Aufruf zum Nicht-Glauben an sich. „Tue ich die Werke meines Vaters
nicht, so glaubt mir nicht; tue ich sie aber, so glaubet, wenn ihr auch nicht mir
glaubt, den Werken …“ (10,37f): Im lo e'eseh et ma'asseh avi, al ta'aminu li; [ve im
asiti, gam im lo ta'aminu li] ha'aminu-na le ma'assai. Dies jüdische Werkvertrauen Jesu
läßt sich soteriologisch bei uns überhaupt nicht verrechnen. Und schon gar nicht das
„Glaubt nicht mir“. Hier haben wir ein Beispiel für das so auffällige Nicht-Ich.
Aber zugleich einen wichtigen Hinweis für das anachnu echad, hen esmen des
Johannes. Wer vom davar angesprochen wird, soll sich eben darin in den Ring von
Gottwesen gestellt sehen, sich „Sohn des Höchsten“ nennen dürfen. Wiederum: Mag
dies einleuchten, wem [es] will – das haja des davar et ha elohim, pros ton theon
oder des ezel ha elohim, noch einmal pros ton theon, dies „auf Gott hin“ findet hier
eine Auslegung „von Gott her“: Wer von Gott angesprochen ist, lebt auf Gott hin
zugeordnet, und das, sagt Johannes, heiße für diesmal „Sohn-Gottes-“, Sohn-des-
Höchsten-Sein. Die Substanz des Schriftbeweises aus Ps 82,2 meint offenbar dies: Es
spricht von einem über die Werke vermittelten Beziehungswesen zwischen Gott und
einem, diesem Sohn des Höchsten. Also: Nicht-Identität auch hier.
Und nun ginge es Schlag auf Schlag. „Deinen Namen“ will Jesus den Menschen
offenbaren (17,6.11.12.26). „Dein Wort“ sagen (17,14.17). Seine Lehre ist nicht sein,
sondern Dessen, der ihn sandte (7,16). Nicht seine Ehre sucht er (7,18). „Nicht von
mir aus bin ich gekommen“ (7,28). Nichts tut er von sich aus (8,28). „Ich rede, was
ich beim Vater gesehen habe“ (8,38). „Nicht ich richte“ (12,47). „Nicht von mir aus
habe ich geredet“ (12,49). „Das Wort, das ihr hört, ist nicht mein, sondern des Vaters,
der mich gesandt hat“ (14,24), u[nd] s[o] w[eiter].
Das alles sind doch nicht bloß verbale Beteuerungen, Demutsgesten. Es ist das
Kerygma des Jesus bei Johannes: seine Botschaft. Es hat Knochenbau, nämlich: Ein
Knecht ist nicht größer als sein Herr, kein Gesandter größer als der, der ihn gesandt
hat. Und wenn ihr dies wißt – selig seid ihr, wenn ihr es auch tut (13,16). Dies halte
ich für das Prinzip der johannäischen „Christologie“. Einerseits darin, daß Jesus sich
nicht in Gott hineinsetzt, sondern sich ihm unterordnet, indem er allerdings sich ihm
ganz, unlöslich zuordnet – pros ton theon –. Andererseits aber auch darin, daß wir
dies sein Gottesverhältnis wissen und auch unsererseits tun können. Das ist ganz
eigenartig und sehr biblisch: ein Wissen, das ein Tun ist, ein Tun, das ein inneres
Wissen um Gott und den Sohn Jesus, wie um Gott und den Sohn Israel, kennt,
daraus entspringt, dem ent-spricht. Eine ganz eigenartige Beteiligungschristologie:
14,20: „An jenem Tage werdet ihr erkennen: Ich im Vater, ihr in mir, ich in euch.“
Das Jesus-Vater-Verhältnis hat nichts Mythologisches, Abgehobenes, Apartes, es
verwirklicht sich im Jesus-Menschen-Verhältnis, und dies ist „an jenem Tage“: also
Zukunftsmusik. Eschatologische Christologie.
Und noch einmal: Dies alles, das Nicht-Ich, das wir hier von Jesus hören, ist doch
nicht bloß verbale Beteuerung. Jesus tut es auch. Getanes Nicht-Ich. In keinem
anderen Evangelium gibt es Abschiedsreden, geschweige denn so ausgeführte, also
betonte. Jesus kommt nicht nur, er bleibt nicht nur – dieser Jesus hier geht. Er räumt
den Platz, fast hätte ich jochananisch-täuferisch gesagt: für einen, der auch nach ihm
noch kommen wird, der größer ist als er. Der wird Jesu Wahrheit zur Teilwahrheit
machen, wenn erst er uns „in alle Wahrheit leiten“ wird (16,13), kol ha-emet.
Wie lebt es sich mit einem, der geht? – dies ist heute für mich die sprechendste Frage
des ganzen Evangeliums, die existentiellste. Wie glaubt es sich fragmentarisch,
überbietbar? Eine für uns Christen ganz neu scheinende Frage. Und ich höre sie
verbunden mit einer Weisung und einer Verheißung. Die Weisung sagt (14,28): Ihr
solltet euch freuen, daß ich gehe. Denn … ja: warum? der Vater ist größer als ich – ki
avi gadol mimmeni. Das ist das schlechthin jüdische Nicht-Ich des johannäischen
Jesus, und er sagt: eben darüber, genau darüber sollen wir uns freuen. Und die
Verheißung sagt: (a) Wer an mich glaubt, der wird die Werke tun, die ich tue. Also
auch vor uns nimmt er jede Besonderheit zurück, macht uns in den Werken alle
gleich. Aber auch: (b) und wird größere als diese tun, denn ich gehe zum Vater
(14,12). Er setzt sich uns gegenüber sogar in den Diminutiv. Und sagt uns so, was
Väter in Israel immer sagen: Es liegt dir nicht ob, die Arbeit zu vollenden, es steht dir
aber nicht frei, sich ihrer zu entledigen (Avoth II, 21).
V.
Nun zum Schluß, nehmt alles nur in allem, also ein kelal, telos, die Summe.
Der Jesus des Johannes-Evangeliums läßt sich als ein Gesandter Gottes hören. Er
führt seine Gesandtschaft aber aus, wie es der biblische Prophet als Bote tut: Er sagt
nichts von sich selbst, sondern sagt nur, was ihm gesagt wurde. Schon im wahren
Propheten wittert ein Problem der Identität zwischen der Rede Gottes und seiner
Rede. Und schon wahre Propheten geben ihren Leib, und mit ihrem Leib sich selbst
ganz in ihre Botschaft hinein, erleiden das Wort, das sie sagen und das doch nicht
das ihre ist, zahlen es mit ihrem Leben, fühlen sich von ihm schon pränatal, im
Mutterleib, besetzt, und doch – wenn es geschieht, kann es auch geschehen, daß Gott
sie „prangen“ läßt inmitten der Menschen; dann wird so einer emporgetragen
werden und mächtig ragen (Jes 52,13), und durch seine Hand gerät SEIN, Gottes,
Wille (Jes 53,10). Auch Jesu Gottesnähe ist bei Johannes vor allem Boten-Nähe. Auch
sein Tun, seine „Werke“, sind ja vor allem seine Worte, ist Geschehen, haja des
davar.
Nun gibt er auch „Zeichen“, nicht ganz von gleicher Art, wie auch Israels Propheten
durch Zeichen-Handlungen reden. Jesus „zeigt“ kompakter. Aber wo die anderen
Evangelisten lieber [von] tærata, von Wundern Jesu erzählen, beißt Johannes sich ein
bißchen auf die Zunge; jedenfalls benennt kein anderer, wie er, die tærata als
sæmeia, othot; und othot sind einerseits Vorzeichen auf Kommendes, Größeres,
andererseits zeigen alle Zeichen auf Gott und sein Prangen in den Zeichen. Gewiß
fällt Glanz davon auch auf den, der zeigt. Honi, der Kreiszieher – einer von den
frühjüdischen Wundertätern – darf sich auch als ein „Sohn“ im Haushalt Gottes
fühlen (Flusser, Jesus, 89), schmeichelt sich bei Gott ein, und [d]er tut ihm, was er
will, wie wenn sich ein Sohn bei seinem Vater einschmeichelt, und [d]er tut, was der
Sohn will, und auch mit ‚Abba’ ruft er ihn an.5.
[Das] ist freilich nicht dasselbe; im haja des davar gibt es Identitäten wirklich nicht,
auch nicht solche, die im religionsgeschichtlichen Vergleich manifest gemacht
werden könnten; das ist der methodische Irrtum bei der Jagd nach gleichen oder
ungleichen „Vorstellungen“ zwischen Jesus und den Juden. Im haja des davar
kommt es zu vielen Anklängen, werden ja Nachbarschaften gestiftet, z.B. im
parallelismus membrorum. Aber die Parallelen – mögen sie sich im Unendlichen
berühren – im Endlichen grüßen sie sich. Jesus wirkt bei Johannes abständiger zu Gott,
als daß von identifizierender Einheit die Rede sein könnte. Aber von seiner
Subordination können wir auch nicht reden, wenn wir damit einen
Subordinatianismus meinen, einen Status von Subordination. Diese Kategorien
passen einfach alle nicht. Von Stunde zu Stunde, von Fall zu Fall immer neues Sich-
Einen geschieht. Da gibt es zweifellos solche Momente, in denen sich Jesus wirklich
mit dem Vater „eins“, nämlich einig wissen darf. Das sind große Augenblicke, wo er
dann sagen darf: ‚Auch wenn ich von mir selbst zeuge, ist mein Zeugnis wahr’ (8,14).
Aber er hat auch das nicht aus sich selbst, sondern aus dem Woher-er-ist und dem
Wohin-er-weggeht: „Denn ich weiß, woher ich komme und wohin ich gehe“, ki
jadati meajin bati ve anah ani holekh. Nicht von seinem Sein kann er Zeugnis geben,
sondern aus seinem Kommen und Gehen, und das heißt immer auch: nur in seinem
Kommen und Gehen.
So sagen wir von seinem Wirken: Er weist über sich hinaus, von seinen Wegen und
seinem Leben: Er lebt über sich hinaus. Er bezeugt auch in den Momenten, in denen er
sich bezeugt, doch nicht sich, sondern Ihn, den Gott Israels.
Ich hoffe, ich übertreibe nicht: Er lebt ein Schema Jißraël, adonai elohnu, adonai
echad.
Diese Phrase meine ich nicht schöngeistig. Ich möchte damit zugleich das ungemein
Gefährliche benennen, das jede Totalität bedeutet, gerade auch die religiös gelebte.
Nicht nur beten, sondern ein Gebet leben – wenn es nicht Kitsch ist, kann es ein Wahn
sein. Es gibt eine Monomanie, ein Kreisen im Sprechen des 4. Evangelisten, die
empfinden wir, wenn wir psychisch sensibel sind, wie wahnhaft. Auch darin liegt
etwas, was jüdische Nüchternheit abstoßen kann. Um dann doch sogleich wieder
jüdischen Ohren, jüdischer Erfahrung ganz etwas Vertrautes zu haben: wenn Jesus,
des Gottesnamens Immanuel – Gott mit uns – sich getröstend, sagt: „Ich bin nicht
allein, sondern ich und er, der mich gesandt hat“ (8,16), ki lo levadi hinneni, ki im ani
ve ha av, ascher schelachani.
So möchte ich also sagen: Johannes habe zwar keine ‚jüdische’ Christologie, aber eine
doch, bei der wir nicht rot werden müssen, wenn Juden uns zuhören.
Was dann aber mit dem johannäischen „Antijudaismus“? Zu leicht wäre zu sagen:
Die Art, wie er über die Juden spricht, nämlich gegen sie, reimt sich nicht mit der Art,
wie er Jesus hört. Obgleich, wenn wir so sagen könnten, eine Fundamental-
Ambivalenz benannt wäre, die manches andere Ambivalente erklären könnte. Und,
möchte ich hinzufügen: Wie gut wäre es doch, wenn wir „sachkritisch“ das, was wir
von Jesus hören, ausspielen könnten gegen das, was wir Johannes über die Juden
sagen hören.
Wiederum meine ich zu vernehmen, daß dies Problem dem 4. Evangelium inne ist.
Zuzuhören wäre jetzt seinem Sprechen über die Juden. Manches erleichtert sich da
schnell: Nicht nur von Juden spricht er pauschalierend, er sagt auch „die Griechen“,
nicht weniger pauschal, – sagt auch: „die Soldaten“, die ja ebenfalls bei ihm keine
gute Rolle spielen; wir haben es da also wirklich auch mit einer façon de parler zu
tun. So ließe sich noch manch einzelnes bemerken.
Lieber mache ich Sie noch auf etwas Strukturelles aufmerksam über Jesus und die
Juden: Er fordert sie heraus ins Sprachgeschehen.
„Ich rede, was ich beim Vater gesehen habe. Tut ihr nun, was ihr von eurem Vater
gehört habt“ (8,38). Stolpern wir nicht über die Differenzierung zwischen Reden und
Sehen, Tun und Hören. All Vier’s [sic!] sind verschiedene Weisen des einen haja des
davar. Auch Jesus kann „tun“, was er „hört“, und die Juden können „reden“, was sie
„gesehen“ haben. Jesus bestreitet ihnen nicht ihr Wort. Er nötigt sie nicht zu seinem
Wort. Er fordert sie heraus zu ihrem Wort, lädt sie ein zu ihrer Wahrheit und stellt, was
zwischen ihm und ihnen spielt, dem „Beweis des Geistes und der Kraft“ anheim, wie
er es ja auch mit der Samaritanerin tat. Er gibt, daß „das Heil von den Juden
kommt“, nicht der Vergangenheit preis, er gibt der Wahrheit dieses Bekenntnisses
eine Chance – gerade im Blick auf das, was er bei seinem Vater gesehen hat.
Mitten in der „Spaltung“: Dialog. Ich sage, was ich höre – sage du, was du hörst. Ich
bin skeptisch gegen das, was du sagen könntest, aber sage es: Ich höre. Polemik ist
nicht verboten. Das schreckliche Teufelswort, immerhin, steht doch gerade hier, wo
Jesus bittet: Sagt ihr, was ihr von eurem Vater hört: Teuflisches oder Göttliches. Es
wird sich zeigen. Es geschehe davar.
Wenn ich nun schließlich dies alles und noch mehr bedenke, könnte ich Johannes
anblicken und sagen: Ich finde keine Schuld an dir.
Freilich: Auf deinen doppelten Boden kann ich mich nicht mehr stellen, nach
Auschwitz nicht.
Aber mit dem großen ego eimi, anochi hu, läßt du Jesus sich in Korrelationen setzen
zu dem, was wir alle am nötigsten haben: Brot, Licht, Tür, Hirten, Auferstehung,
Leben, Rebbe, Wahrheit, Weinstock [?], Weg – vor allem Weg, Halacha. Das ist ein
Korrelations-Ich zu dem, was wir brauchen, um einander gut zu tun und gut zu sein:
eine Korrelation, die wir von Jesus haben können – und nun zuguterletzt mein Satz
der „Sachkritik“: Weil Jesus sie von Israel hat. Denn das Heil kommt zu uns von den
Juden, insofern zu uns Jesus kommt (9,11): Isch ascher niqra schemo Jeschua, der
Mensch, der Jesus heißt, ho anthrôpos ho legomenos Iæsous (2,11).
Vortrag am 24. 3. 1990 in der katholischen Paulusakademie, Zürich
(aus dem Manuskript übertragen von Dorothee Marquardt, unter Mitarbeit von
Dagmar Asten und Cornelia Sahamie redigiert von Andreas Pangritz)
1. An das Original-Manuskript hat Friedrich-Wilhelm Marquardt einen Zettel geheftet: „Ein in meinen Augen immer noch vorzüglicher und möglichst mal zu veröffentlichender Johannes! Johannes – aus dem Hebräischen gedacht.“ – Die hebräischen Zitate aus dem Johannesevangelium im Text gehen auf die hebräische Übersetzung des Neuen Testaments von Franz Delitzsch zurück, die Marquardt offenbar benutzt hat. [AP] ↩
2. Eberhard Busch, Karl Barths Lebenslauf. Nach seinen Briefen und autobiographischen Texten, München 1975. – Vgl. dazu jetzt genauer: Eberhard Busch, Unter dem Bogen des einen Bundes. Karl Barth und die Juden 1933-1945, Neukirchen-Vluyn 1996, 373-384 [AP]. ↩
3. David Flusser, Eine judenchristliche Quelle des Johannesevangeliums, in: ders., Entdeckungen im Neuen Testament, Bd. 1: Jesusworte und ihre Überlieferung, Neukirchen-Vluyn 1987 [AP]. ↩
4. Genau genommen bezieht sich dies Zitat auf die von Flusser angenommene „judenchristliche Quelle“, die „als Grundlage für das Johannesevangelium“ gedient habe [AP]. ↩
5. Vgl. David Flusser, Jesus in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt, Reinbek bei Hamburg
1968, 89 [AP].
↩