Kleine theologische Enzyklopädie, die Systematische Theologie
Die bisher besprochene Bibelwissenschaft und die K[irchen]g[eschichte] sind die
historischen Disziplinen der Theologie. Sie dienen hauptsächlich der Aufklärung alter
Texte und Sachverhalte unter den jeweiligen Bedingungen ihrer Zeit. Das schließt
nicht aus, daß solche Vergangenheitsaufklärung prinzipielle Bedeutung für die
heutige christliche Existenz, ihre Lage und ihr Selbstverständnis hat; wir haben
immer wieder versucht, eine aktuelle Bedeutung der historischen Theologie zu
benennen. Aber nun brauchen Kirche, Glaube und Theologie auch einen
Reflexionsgang, in welchem christliche Lehre und christliches Leben im Lichte
heutiger Probleme, Anfechtungen und Herausforderungen erörtert werden. Dazu
dienen Dogmatik und Ethik. Man könnte sie neben die „historische“ Theologie als
eine „Gegenwartstheologie“ stellen. Dabei ist das Verhältnis von Dogmatik und
Ethik zur historischen Theologie so zu bestimmen, daß sie die historisch aufgeklärten
Traditionen unter den Bedingungen des heutigen Bewußtseins verantworten – und
d.h. sowohl kritisieren wie aktualisieren. Darum ist ein Rückgriff von Dogmatik und
Ethik auf die Gegenstände der historischen Theologie und ihre Erkenntnisse immer
notwendig. Historische Theologie und Gegenwartstheologie teilen die gleichen
Gegenstände, bedenken sie aber unter verschiedenen Hinsichten: die historische
Theologie vor allem mit der Frage, was diese Gegenstände damals meinten,
Dogmatik und Ethik vor allem mit der Frage, was sie heute bedeuten können.
Der Ausdruck „Dogmatik“ verführt zu einem naheliegenden Mißverständnis: als
wäre sie diejenige theologische Disziplin, in der die Dogmen der Kirche erörtert
werden. Wir hörten aber schon, daß Dogmengeschichte eine Unterdisziplin der
K[irchen]g[eschichte] ist, und davon ist Dogmatik zu unterscheiden. Die Beziehung
der D[ogmatik] auf die von der Kirche autoritativ gelehrten Dogmen ist keine
konstitutive Beziehung, die D[ogmatik] ist nicht Reproduktion der kirchlichen
Dogmen unter heutigen Bedingungen (als diese Dogmen kommen vor allem infrage
die Lehrentscheidungen einiger Ökumenischer Synoden zwischen dem 4. und 7. Jh.
n. Chr. über die Frage, inwiefern im Menschen Jesus von Nazareth Gott als
gegenwärtig gedacht werden kann [= christologische Dogmen], und über die Frage,
wie die von der hebräischen Bibel bezeugte Einheit Gottes gedacht werden kann,
wenn Gott sich doch nach neutestamentlichem Zeugnis zu einer Daseins- und
Wirkungseinheit mit einem bestimmten einzelnen Menschen entschlossen hat und
wenn er die Begeisterung, zu der er durch sein Handeln viele Menschen hinreißt, als
zu seinem eigenen Wesen gehörig offenbart [= Trinitätslehre]). Die Dogmatik trägt
ihren Namen (erst seit der Mitte des 17. Jh.) nicht im Blick auf die geschichtlichen
Dogmen der Kirche, sondern im Blick auf einen prinzipiellen Begriff des Dogma[s],
d.h. im Blick auf das, was die Kirche heute als ihre Lehre so verantworten kann, daß
sie ein Bekenntnis Gottes dazu erhoffen darf. Der prinzipielle Begriff Dogma
orientiert sich also nicht an kirchlicher Autorität, sondern an Gottes Autorität, für die
kein Mensch garantieren, die auch eine Kirche nur erbitten und erhoffen kann. K[arl]
Barth nennt in diesem Sinne das Dogma einen „eschatologischen“ Begriff (vgl.
K[irchliche] D[ogmatik] I/1, S. 284), d.h. einen Begriff, der auf ein unverfügbares,
„letztes“ Ereignis der Übereinstimmung von kirchlicher Lehre und Gottes Wahrheit
hinzielt. Das Verhältnis der Dogmatik zum Dogma ist dann das Verhältnis eines
heutige Fragen aufnehmenden und ordnenden Fragens nach der Wahrheit zu dem
Ereignis seiner Beantwortung durch Gott.
Hinter der D[ogmatik] als einer theoretischen Tätigkeit des Glaubens steht ein
Lebensproblem speziell des christlichen Glaubens, das sich so in anderen Religionen,
auch im Judentum, nicht stellt. Warum begnügt der christliche Glaube sich nicht
damit, schlicht und praktisch seinen Glauben zu leben? Warum will er sich auch in
theoretischer und wissenschaftlicher Gestalt auslegen und selbst verstehen lernen?
Warum drängt christlicher Glaube auf Verstehen? Diese Fragen hatten wir schon
oben gestellt (vgl. S. 2f.). Wir wiederholen hier noch einmal die dort gegebenen
Antworten: a) Mannigfaltigkeit der Christentümer verlangt nach stets neuer
Orientierung und Entscheidung dessen, was „christlich“ ist. – b) Die Spannung
zwischen Gott und Mensch ist in einer Religion übergroß, die die Grenzen zwischen
beiden so aufhebt, wie es in der christlichen Verkündigung von der Menschwerdung
des Wortes Gottes geschieht; diese Spannung erzwingt die Frage nach ihrer
Denkbarkeit. – c) Das Christwerden bedeutet für Heiden einen tiefen Daseinsbruch
im Lebensstil, in der Bildung von Loyalitäten und in der Wertorientierung: einen
„ontologischen“ Bruch und die Aufnahme eines „neuen“ Lebens, in dem ihnen die
alten Lebensweisen und so auch das alte Denken verlorengehen und sie sich auch
denkend neu gewinnen müssen.
Aber nun kommt ein weiteres Moment zur Theoriebildung im christlichen Glauben
dazu: der „religiöse“ Charakter, den „Denken“ in der Antike besaß. Der uns
geläufige Gegensatz von Denken und Glauben ist neuzeitlich, während diese Differenz
der Antike ganz unbekannt war. Die griechische Philosophie übernimmt in der
Antike Funktionen, die wir heute als ausgesprochen religiös empfinden. Als Beispiel
zitiere ich das 4. Fragment des Parmenides von Elea (ca. 540/539 geboren). Nachdem
er zuerst in mythologischer Form von einer Auffahrt des Denkers zum Licht erzählt
hat (auf einem Wege, der fern von den Pfaden der Menschen liegt: Göttinnen waren
Geleiter der Fahrt, das Haus haben sie durchschritten, eine namenlos bleibende
Göttin hat sie im Licht empfangen), teilt er die Worte der Göttin mit, die der Inhalt
seiner Philosophie sind. Und das dritte Wort der Göttin lautet: „Schaue doch mit
dem Geist, wie durch den Geist das Abwesende anwesend ist mit Sicherheit …“ Wir
haben in diesem Wort einen Inbegriff des frühen Philosophierens. Die Tätigkeit des
Geistes wird hier noch ein „Schauen“ genannt, hat also visionären Beigeschmack.
Geistestätigkeit, d.h. Denken dient dazu, Abwesendes anwesend zu machen.
Schließlich vermag die Vergegenwärtigung von etwas Abwesendem durch Denken
eine Gegenwartsweise der Sicherheit und nicht des bloßen Scheins zu vermitteln.
Das Letzte ist das Entscheidende: bloß sinnliche Wahrnehmung kann täuschen, allein
das Gedachte, das von aller Sinnlichkeit gereinigte, rein Geistige, kann Sicherheit
über die Realität des Gedachten geben gegenüber allem Schein. So vermittelt das
Denken des Unsichtbaren Gewißheit über die Realität des Unsichtbaren, indem es
uns dies gegenwärtig setzt; was aber so gegenwärtig ist, täuscht nicht. Es ist sehr
naheliegend, daß biblischer Gottesglaube sich dieses Mittels der Versicherung der
Realität des Unsichtbaren im Denken zu bedienen versuchte. Wenn nämlich
christlicher Glaube nach Hebr 11,1 „eine gewisse Zuversicht dessen“ ist, „was man
nicht sieht“, dann ist die Unterstützung dieser Zuversicht durch ein Denken, das das
gegenwärtig setzen kann, was man nicht sieht, verständlich. Anders gesagt: unter
der Voraussetzung der antiken Wissenschaft, die noch tief ins Mittelalter
hineinwirkt, sind Denken und Glauben nicht Gegensatz, sondern
Ergänzungsbegriffe. Dementsprechend heißt noch im Mittelalter die klassische
Verhältnisbestimmung beider: fides quaerens intellectum, d.h. der Glaube erfragt
denkend den ihm eigenen, den ihm immanenten Intellekt; und das kann er, weil
beides, das Denken wie der Glaube, eine Vergewisserung über Unsichtbares
erbringen wollen und können. Mit einer nur leichten Verschiebung wird also aus
praktischem Glauben theologische Theorie: aus gewisser Hoffnung vergewisserndes
Denken. In der leichten Differenz der beiden verbirgt sich aber ein Abstand
verschiedener Welten: [der] zwischen hebräischem und griechischem
Wirklichkeitsverständnis und [der] zwischen Urchristentum und Kulturchristentum.
Ist man einmal gegen diese Differenz unempfindlich geworden, dann folgt der sich
denkend orientierende Glaube fast zwangsläufig auch den weiteren Wegen und
Entwicklungen des Denkens, die an der Schwelle zur Neuzeit vom „Denken“ zum
„Wissen“ weiterführen, so daß auch in der Theologie aus dem Verhältnis Glaube
und Denken ein Verhältnis Wissen und Glaube sich bildet, das bald nicht mehr ein
Ergänzungs-, sondern ein Gegensatzverhältnis wird. Der Weg vom Denken zum
Wissen ist der Weg von der Vergewisserung der Realität des Unsichtbaren zur
methodischen Vergewisserung der Realität des Sichtbaren durch konsequente
Ausschlußverfahren des ungewiß bleibenden Unsichtbaren. (R[ené] Descartes:
Nachdem schon Nikolaus von Kues als Tätigkeit der mens, des Verstandes, das
mensurare = Maßnehmen, dargestellt hat, was ja nur an Gegebenem möglich ist, nicht
an Unsichtbarem.) Mit der Wendung der Philosophie vom Denken zum Wissen gerät
die Theologie für längere Zeit in Ungewißheit über ihre Selbstbestimmung als
Wissenschaft. Wo die Einheit des menschlichen Selbstbewußtseins zur Bedingung
der Möglichkeit von Wissenschaft überhaupt wird (wo also z.B. der Denker nicht
mehr in mythologische Fahrt zum Licht aufbricht und sein Gedanke nicht mehr
Spruch der Göttin ist, wo der Denker also nur in der Welt und dort mit den Kreisen
seines Kopfes allein bleibt), da muß auch Theologie, wenn sie nicht auf ihre
Wissenschaftlichkeit verzichten will, ihr Denken dem Maßstab der von keinen
Außenfaktoren gestörten Bewußtseinseinheit unterwerfen (noli turbare circulos meos;
der Heilige Geist kann dann z.B. nicht mehr als Störfaktor des engen Kreises eines
menschlichen Selbstbewußtseins und seiner Gesetzmäßigkeiten erfahren werden:
Gesetzmäßigkeit wird zur Bedingung für Wahrheit und Realität). Theologie muß
dann Phänomene benennen, die Platz haben innerhalb des Bewußtseins des
Menschen von sich selbst (und die dessen Einheit nicht stören), um
Transzendenzbeziehungen fest an solche Phänomene zu knüpfen: z.B. Seele,
Gewissen, Gefühl schlechthiniger Abhängigkeit, unbedingtes Gefordertsein,
Umgetriebensein, Fraglichkeit von Sinn und dgl.; dies sind alles Phänomene, die im
Selbstbewußtsein des Menschen vorkommen, und jedes von ihnen ist in der
modernen Zeit schon einmal zum Angelpunkt einer Transzendenz- oder
Gottesbeziehung erklärt und theologisch systematisiert worden; die bewegte Seele:
bei Augustin und A[dolf] v[on] Harnack, das Gewissen: in der ganzen Theologie des
19. und frühen 20. Jh., das Gefühl schlechthiniger Abhängigkeit: bei Schleiermacher,
das unbedingte ethische Gefordertsein: bei Tillich, Gogarten und Bultmann, das
Umgetriebensein: bei H[erbert] Braun, die Fraglichkeit von Sinn: bei Gollwitzer und
Weischedel, usw. Es ist klar, daß biblische Störphänomene damit dem Kanon des
„Wissens“ geopfert werden: nämlich alles, was sich mit der Theorie von einer
„Gesetzmäßgkeit“ des Wirklichen nicht reimt (Wunder, Menschlichkeit Gottes; extra
nos unseres Heils usw.). Diese Theorie spiegelt aber gar nicht die Realität ab, sondern
ist eine Projektion des Bewußtseins in die Realität hinein, mit deren Hilfe die Einheit
des Bewußtseins beim Umgang mit der Welt bewahrt werden soll. So ist der Diktator
des wissenschaftlichen Weltwissens der Mensch, der die Einheit seines Bewußtseins
retten will vor den Anstürmen des Unbegreiflichen und Unbeherrschbaren, und
Wissenschaft ist so der Kampf des Menschen um seine Weltherrschaft. Beugt
Theologie sich diesem Kanon, dann beugt sie sich der Strategie des modernen
Menschen in seinem Kampf um Weltherrschaft. Eine Ahnung davon, daß sie auf
diese Weise sich dem Seinwollen des Menschen wie Gott zur Verfügung stellt – also
nach biblischer Anschauung: der Sünde –, ist erst langsam innerhalb der
Dialektischen Theologie unseres Jahrhunderts gewachsen, die darum die
Hauptsorge, wie Gottesbeziehung störungslos Bewußtseinsheit wahren kann, nicht
mehr teilt und ganz andere Orte für Transzendenzerfahrung benennt: das mit der
Bibel nicht identische, aber von ihr bezeugte „Wort Gottes“ als jenes unverfügbare
Ereignis, das wir oben (S. 12f.) beschrieben haben; dies Wort Gottes aber als die
Macht, die „die Welt überwindet“ (Joh 16,33), statt sie zu beherrschen; gemeint ist:
„die Welt“ als positivistische Gegebenheit, die als Zwangsmacht auf uns wirkt und
von uns entweder hinzunehmen oder zu unterwerfen ist, oder anders gesagt: die
Welt als „Realitätsprinzip“. Das Wort Gottes nimmt der Welt und ihrer Realität
diesen Machtcharakter und degradiert sie zu Orten, wo wir frei leben können. Das
Wort Gottes bricht damit aber nicht ein Interesse des Glaubens am Wissen, wohl aber
eine Identifizierung des Wissens mit den Selbstbehauptungskämpfen der modernen
Menschen um ihre Bewußtseinseinheit und ihre Gesetzesprojektionen. Anders
gesagt: Glaube steht nicht gegen Wissen, wohl aber gegen alles Zwingende an
Wissenschaft.
Indem wir dem Weg der Philosophie vom Denken zum Wissen und zur
Wissenschaft aufs kürzeste gefolgt sind, hat sich uns unter der Hand eine
Perspektivverschiebung der Frage ergeben, inwiefern eigentlich christlicher Glaube
Theologie nötig habe oder: Urchristentum zu Kulturchristentum notwendig werden
müsse. Hat sich anfangs das Denken der Philosophie als Hilfsmittel des Glaubens
allenfalls rechtfertigen lassen (obgleich uns die Verschiebung von Hoffen auf Denken
bewußt bleiben muß), so ist in der neuzeitlichen Phase des „Wissens“ Theologie
lange Zeit nur ein Unterwerfungs- und Assimilationsphänomen gewesen, dem sich
m.E. mit Recht der Pietismus entgegengesetzt hat mit seiner Forderung nach einer
praxis pietatis. Dagegen hat die Erschütterung der bürgerlichen „Welt von gestern“
(St[efan] Zweig) durch den 1. Weltkrieg der Theologie eine wissenschaftskritische
Möglichkeit gewonnen, die doch nicht wissensfeindlich ist. Für den Glauben
notwendig scheint Theologie in dieser Gestalt nicht mehr, wohl aber für die Welt;
dies gilt jedenfalls für eine Theologie, die es noch [nicht] für ganz sinnlos hält, daß
der Glaube Welt- und Kulturverantwortung behält und sich nicht in einem Rückzug
auf sich selbst „entweltlicht“. Sofern die Menschheit angewiesen bleibt auf eine weltund
kultur- = macht-kritische Stimme, kann Theologie ein sinnvolles Wirkmittel des
christlichen Glaubens bleiben.
Das hat aber unvermeidlich eine Kehrseite. Soll Theologie ein Dienstmittel des
Glaubens an der Welt sein, dann muß der Glaube selbst sensibel bleiben für die Lage
der Welt und gewarnt werden vor dem seelischen Bedürfnis nach Weltflucht oder
Abschottung von der Welt. Hier aber entsteht eine aus der Schwäche des Glaubens
und der Realität der Kirche abzuleitende Notwendigkeit für Theologie. Theologie
kann heute ein Mittel gegen Weltflucht des Glaubens oder (was dasselbe, nur von
einer anderen Seite her gesehen, ist) gegen Weltverfall der Kirche sein. Das Bedürfnis
nach Weltflucht ist gerade zur Zeit verständlich, und die Welt- = Machtförmigkeit
der Kirche in unserem Land ein Zeichen tiefster Unglaubwürdigkeit nach innen und
außen. Theologie, die im offenen und doch freien Lernprozeß bei der Weltmacht
Wissen bleibt, kann den Glauben über die jeweils neuesten Verführungen der Welt
und der Macht unterrichten und ihm zeigen, wo die Fallen gestellt sind, in denen er
sich verfängt: Fallen, die gerade ihm, dem Glauben, und ihr, der Kirche, aufgestellt
sind, um sie zu fangen und unschädlich zu machen (z.B. Bergpredigt und
Zweireichelehre in der Zitation von Regierenden, Kirche und Christentum als
Instrumente einer politischen civil religion, Bekämpfung der Wahrnehmung des
Apokalyptischen in der Gegenwart – nach E[rnst] Käsemann: der „Mutter der
christlichen Theologie“ – durch politische Verdrängung usw.). In diesem
Zusammenhang können wir heute den Leitsatz des 1. Paragraphen der K[irchlichen]
D[odmatik] von K[arl] Barth aus dem Jahre 1932 unverändert wiederholen:
„Dogmatik ist als theologische Disziplin die wissenschaftliche Selbstprüfung der
christlichen Kirche hinsichtlich des Inhalts der ihr eigentümlichen Rede von Gott.“
Dogmatik ist „Selbstprüfung“, also eine kritische, keine affirmative (d.h. die
Tradition und Gegenwart der Kirche einfach bejahende und kritiklos hinnehmende)
Wissenschaft. Dogmatik ist eine Arbeit der Kirche, d.h. sie arbeitet mit Normen, die
der Kirche eigen und nicht fremd, die ihr innerlich und nicht von außen aufgedrängt
sind. Dogmatik ist eine inhaltsbestimmte, nicht eine vorherrschend methodologische
oder erkenntnistheoretisch interessierte Arbeit. Inhalt, der in der Dogmatik erfragt
wird, ist nicht das menschliche Reden überhaupt, sondern das spezifisch kirchliche
Reden von Gott. Dogmatik erfragt das kirchlich Eigentümliche dieser Rede, d.h. vor
allem das biblisch Eigentümliche. – Die Insistenz auf Kirchlichkeit, Inhaltlichkeit und
Eigentümlichkeit ist nicht Ausdruck einer Selbstbezogenheit und eines
Apartheitsgeistes der Theologie, sondern dient der immer neuen Herausarbeitung
der besonderen Kraft und Substanz, mit der die Theologie einerseits den Glauben an
seine Identität erinnern, andererseits der Welt eben damit im oben beschriebenen
Sinn dienen kann. Die Herausstellung des Eigentümlichen ist Mittel einer
gehaltvollen Kommunikation, aber auch eines gehaltvollen Widerspruchs zur
wissenschaftlich begriffenen Welt.
Das Eigentümliche, Inhaltsreiche, Kräftige, zum Widerspruch Fähige sind nicht diese
oder jene einzelnen Maximen, Vorstellungen, Motive des christlichen Glaubens (z.B.
Sprüche Moses: „Du sollst nicht töten“, Sprüche Jesu: „liebet eure Feinde“, oder
Apostelweisung: „Haltet euch herunter zu den Niedrigen, wie Gott sich zu den
Niedrigen heruntergehalten hat, als er sich mit Jesus einig zeigte“, usw.), sondern
der Sinn der biblischen Geschichte und ihrer Verheißungen im Zusammenhang.
Darum ist das Christentum noch nicht gegenwartsfähig, wenn es sich mit isolierten
einzelnen Gedanken oder Parolen in der Welt hören läßt und den Sinn des
Christseins darauf beschränkt. Ein Versteifen auf Einzelaspekte des Christlichen hat
soziologisch immer zu Sektengeist geführt und psychologisch und sachlich zu einer
meist zu kurzatmigen und darum nie genügend zeugniskräftigen Vertretung der
christlichen Botschaft. Die besondere Aufgabe der Dogmatik besteht darin, den
Gesamtzusammenhang zu benennen und immer wieder neu zu bestimmen, aus dem
einzelne Maximen, Vorstellungen, Motive ihren eigentümlichen Sinn und ihre
unverwechselbare Bedeutung beziehen. Dieser Zusammenhang ist 1. das Ganze der
biblischen Geschichte, 2. deren historischer und sachlicher Zusammenhang mit der
Kirche der Gegenwart und aller Orte und Zeiten, 3. deren Zusammenhang mit dem
in den Dogmen der Tradition angesprochenen Leben und Sein Gottes selbst und 4.
der Zusammenhang aller dieser Zusammenhänge mit der Zukunft und Gegenwart
der gesellschaftlich existierenden Menschheit von heute. Keiner dieser
Zusammenhänge ist evident und versteht sich von selbst, wir nehmen sie meist gar
nicht wahr, ja: unsere Erfahrung lehrt sie eher bezweifeln. Sie müssen entdeckt und
gedacht werden, weil sie nur in dieser Ganzheit der Macht der gegebenen Welt
etwas anhaben können. Während die anderen Disziplinen der Theologie Teilaspekte
erforschen, brauchen wir Dogmatik als das Denken des Zusammenhangs des
anderen Ganzen, einer neuen Welt, in der Gott nicht ausgeschlossen, auch nicht zu
einem Teilaspekt der Welt oder des Bewußtseins degradiert ist, sondern in der er als
der Befreier von allen menschenfeindlichen Zwängen Gott, Welt und Mensch anders
sehen, erfahren und behandeln läßt als bisher. Dogmatik als das Denken des
Glaubens dient diesem praktischen Sinn des Glaubens.
Die besondere Aufgabe der Dogmatik, Zusammenhänge und so ein neues Ganzes zu
denken, hat zu ihrer Kennzeichnung als „Systematische“ Theologie geführt (zu der
neben der Dogmatik auch die Ethik gerechnet wird). Diese Kennzeichnung wäre
mißverstanden, wenn damit die Bildung eines Denk- und Seinssystems gemeint
wäre, das das Ganze von einem leitenden Prinzip oder einer leitenden Methode her
einsehbar machen könnte. In diesem Sinne hat die Philosophie des deutschen
Idealismus „Systeme“ zur Einsicht in das Seiende im Ganzen zu entwickeln
versucht, aber das kann nicht im Sinne sog. Systematischer Theologie sein. Dogmatik
kann bestenfalls verschiedenste Zusammenhänge miteinander zu verknüpfen sich
bemühen, aber sie kann nicht ein theologisches System des Seienden im Ganzen
herstellen, weil das immer bedeuten müßte, Gott ins System einzuordnen; das würde
ihm aber seine Gottheit bestreiten (vgl. oben S. 3). So kann es sich nur um eine
pragmatische Bezeichnung handeln: „Systematische“ Theologie ist eine (nicht
historisch auslegende, nicht praktisch vermittelnde, sondern eine) systematisch
Beziehungen suchende und knüpfende Theologie.
Mit den vorangehenden Beschreibungen von Dogmatik ist ihre Zugehörigkeit zur
Ethik und der Ethik zu ihr schon angedeutet.
Das Wort „Ethik“ ist griechischer Herkunft und bedeutet Stall, Gewohnheit, Sitte,
d.h.: die Art und Weise, wie man sich in einem Stall zusammengepfercht bewegt.
Das Moment eines engen Zusammenlebens, das Moment, sich in dieser Enge zu
verhalten, und das Moment der Gewöhnung des Verhaltens in einer bestimmten
Situation schwingen in der Wortwurzel etwas mit (wir denken vielleicht statt an
einen Schafstall an ein Gefangenenlager oder eine Gefängniszelle). Allerdings hat die
terminologische Bedeutung dieses Wortes gerade das Moment des
Gewohnheitsmäßigen eines Herdenlebens durchbrochen. Schon in der griechischen
Philosophie fragt Ethik nach der Beziehung menschlichen Handelns auf etwas letztes
Verbindliches, das nicht in den Arrangements des Zusammenlebens selbst enthalten
ist, sondern als Norm eines guten Zusammenlebens einer Gemeinschaft vorschwebt.
Damit ist Ethik von vornherein etwas anderes als Pragmatik (von griech. pragma =
Handeln). Ethik ist eine normative, d.h. nach Normen fragende Wissenschaft, keine
„pragmatische“ Wissenschaft, die Bedingungen des Handelns bloß beschreibt und
immanent nach den besten Arrangements eines Handelns fragt (z.B. nach
absehbaren Folgen, von daher ratsamen Strategien und Taktiken usw.). Ethik ist
auch nicht Kasuistik – eine Wissenschaft, die casûs, einzelne Konfliktfälle des
Handelns vorwegnähme, moralisch durchdiskutierte und richtige Verhaltensweisen
dafür im Voraus festlegte. Zwar unterteilt sich die Darstellung der theologischen
Ethik heute in die zwei Teile: a) prinzipielle Ethik (wo Prinzipien des Handelns aus
dem Wesen des Menschen als Tatwesen entwickelt w[e]rden) und b) spezielle Ethik
(wo gesellschaftliche Grundsituationen des menschlichen Daseins wie Leben,
Sterben, Sexualität, Wirtschaften, Sich-Gesellen usw. auf die Bedingungen hin
untersucht werden, die für ein angemessenes oder gutes Verhalten in diesen
Bereichen infrage kommen). Aber beide Arbeitszweige der Ethik verfolgen bei der
Frage nach dem besten Handeln in der Hauptsache die Frage, was überhaupt als das
Beste alles menschlichen Handelns infrage kommt und wie das, was man als das
Beste erkannt hat, vermittelt werden kann mit den Teilbedingungen der einzelnen
Handlungsfelder. So muß man sagen, daß sowohl die philosophische wie die
theologische Ethik hauptsächlich interessiert sind an einem Horizont alles Handelns,
in bezug auf den jede einzelne Tätigkeit und jedes einzelne Sich-Verhalten einen Sinn
hat und als „gut“ oder „richtig“ bezeichnet werden kann. Klassisch drückt sich das
darin aus, daß Ethik als die Frage nach dem guten Handeln die Frage nach dem
summum bonum ist, dem höchsten Guten oder nach dem höchsten anzustrebenden
Guten. Dieser letzte Horizont kann mit inhaltlich sehr verschiedenen Begriffen
beschrieben werden: z.B. als letztes Ziel, auf das wir alles Einzelhandeln ausrichten
sollen, als umfassendes Recht oder die Gerechtigkeit alle[s] Handelns, oder Glück,
Harmonie oder Friede oder Erfüllung tiefster Menschheitssehnsucht oder als
Erfüllung eines göttlichen Willens – usw. Wie man auch immer das höchste Gut im
Einzelnen bestimmt: Die klassische Ethik weist zwei Strukturmomente auf: 1. Sie hat
mit ihrer Frage nach letzter Begründung oder Gerechtigkeit oder Zielgerichtetheit
eines Handelns eine utopische Funktion und 2. sie ordnet damit notwendig jedes
Einzelhandeln unter die Norm eines menschheitlichen oder gesellschaftlichen
Gesamthandelns. Wie die Dogmatik die Frage nach den Zusammenhängen der für
Gott wichtigen Dinge durchdenkt, so die Ethik, die nach dem Handeln im Ganzen,
sei es von einem Ganzen her oder zu einem Ganzen hin. Dabei hat Ethik im
besonderen die Aufgabe, Formen der Übereinstimmung eines einzelnen Handelns mit
der letzten Norm zu diskutieren. Und eine weitere ethische Hauptfrage ist, wie das
Verhältnis der letzten Norm zum einzelnen Handeln bestimmt wird: als durch
Handeln erreichbares Ziel oder als eine unbedingte, d.h. durch kein Handeln je zu
erfüllende und darum jedes Handeln stets weiter treibende Norm.
Evangelische Ethik orientiert ihre Besinnung auf das gute Handeln weder an
einzelnen göttlichen Geboten noch an „dem“ Gesetz Gottes (was immer auch als
„göttliches“ Gesetz angesehen werde: Naturgesetz, innere Sittlichkeit und Moralität,
Summe biblischer oder kirchlicher Lebensregeln usw.), sie orientiert sich an der
Nachfolge Gottes und Jesu Christi. Damit setzt sie als praktische Bedingung ihrer
Möglichkeit eine aktuelle Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch voraus, wie sie in
den biblischen Bünden des „neuen“ und des „alten“ Testamentes begründet ist.
Allein in Gemeinschaft mit Gott ist Nachfolge Gottes möglich, unter diesem
Gesichtspunkt ist evangelische Ethik von vornherein Gemeinschaftsethik. Zur
Orientierung unseres Handelns in der Nachfolge fragt evang[elische] Ethik, wohin
Gott uns jeweils vorangegangen ist und wohin er uns also ruft. Insofern sind die
Wege Gottes zugleich Weisung an unsere Nachfolge und unser Handeln. Es versteht
sich, daß an dieser Stelle (wo danach gefragt wird, wo Gott heute ist, damit wir ihm
dahin nachfolgen) die ethische Frage eines ist mit der dogmatischen Frage. Wie diese
Frage gestellt und beantwortet werden kann, das ist dogmatisch zu erörtern; was der
Nach-Ruf Gottes („Mir nach“) für unser Handeln bedeutet, ist ethisch zu bedenken.
Die expliziten biblischen Gebote und Weisungen (z.B. Dekalog, Bergpredigt,
Ermahnungen in den Briefen usw.) sind nicht als solche direkt die uns erreichenden
Rufe Gottes; sie wären dann ja gar nicht lebendige Rufe, sondern überzeitliche oder
zeitlose Gesetze ohne Rücksicht auf die konkreten Situationen unseres Handelns.
Andererseits können nicht unsere Situationen die Maßstäbe hergeben für die Frage,
ob die alten biblischen Gebote „für uns heute“ „noch“ passen. Die Frage ist, wie der
Zusammenhang der biblischen Geschichte, in dem die Gesetze und Gebote stehen,
uns in unserer Geschichte heute erreicht, wie wir mit dieser Gesamtgeschichte
verknüpft sind. Erst von der geschichtlichen Gemeinschaft aus gewinnen wir eine
Perspektive für den Sinn und die Geltung alter expliziter biblischer Weisungen. So
ist nicht der Wortlaut der Gebote das ethisch Verbindliche, sondern es ist der
gemeinsame Kontext der biblischen und unsrigen Geschichte das Verbindende, das
die Verbindlichkeiten unseres Handelns erkennen läßt. Man kann das auch so sagen:
Es geht evangelischer Ethik nicht um die Übereinstimmung unseres Handelns mit
den Gesetzen, sondern mit Gottes Geschichte. So ist evangelische Ethik nur möglich
unter der Voraussetzung eines christlichen Gesamtverständnisses.
Im Protestantismus gibt es eine Position, die bestreitet, daß es überhaupt eine
christliche Ethik geben kann: Das Evangelium fordert Liebe von uns und nichts
sonst; was die Liebe im einzelnen zu tun bekommt, kann niemand im voraus wissen;
christlich entscheidend ist nur, daß man in jede beliebige Situation mit Liebe
hineingeht; was in den Situationen zu tun ist, ergibt sich aus der Situation, nicht aus
dem Glauben. Darum ist wohl ein christliches Ethos möglich, aber keine christliche
Ethik. Nach dieser Anschauung ruft und geleitet uns Gott in Situationen hinein, in
die er uns aber nicht vorangegangen ist und in denen nicht er uns mit seiner
Weisung erwartet; wir sind in den konkreten Situationen mit dem Nächsten und den
Dingen allein. Dazu ist zunächst zu sagen, daß in diesem Modell die ethischen
Situationen als unverknüpft mit der Geschichte Gottes angesehen werden, in diesem
Sinne: als gott-lose und (im Sinne der Bibel) ungeschichtliche Situationen. Gerät man
in solche Situationen, verfällt man mitsamt seiner Liebe ihrer Pragmatik und
Gesetzlichkeit. Demgegenüber will der biblische Zusammenhang von Geschichte
und Gesetz (der sich z.B. in der Untrennbarkeit von Geschichtserzählung und
Gesetzestexten in den fünf Büchern Mose oder in den Evangelien ausdrückt) zeigen,
daß jede geschichtliche Situation inhaltlich randvoll mit göttlicher Weisung ist: der
biblische Zusammenhang bietet Beispiele und das Prinzip dafür. Das muß uns
mindestens aufmerksam machen darauf, daß es, wenn es mit rechten Dingen zugeht,
keine von inhaltlich bestimmter Weisung Gottes leere Situation geben kann. Aufgabe
von Ethik ist, am biblischen Beispiel das Prinzip inhaltlicher Bestimmtheit jeder
denkbaren Situation festzuhalten. Und Aufgabe des Handelns selbst ist, die
inhaltliche Weisung jeder Situation zu erkennen und ihr zu entsprechen. Christliche
Ethik kann sich unmöglich mit der Einschärfung sog. Sekundärtugenden begnügen
(d.h. mit situationsunabhängigen moralischen Einstellungen). Das konkrete und
praktische Vernehmen der Weisung Gottes kann von Ethik nicht vorweggenommen
werden und durch keine ethische Einsicht ersetzt werden. Es ereignet sich zugleich
als ein prophetischer und ein analytischer Akt: prophetisch im Wagnis der
Anwendung eines bestimmten biblischen Gebotes auf eine heutige Situation, die als
im Kontext mit der Geschichte Gottes stehend begriffen wird und zugleich als das
analytisch gewonnene Wissen von den einzelnen Umständen und Gegenständen, die
in einer Situation zur ethischen Entscheidung stehen. Ethik kann diese Komponenten
einer inhaltlich begriffenen ethischen Situation einschärfen, sie kann uns dadurch
scharf und sensibel machen für die Frage nach spezifischen Inhalten einer Situation,
sie kann uns auf diese Weise warnen davor, ethische Probleme nur in formalen
Beziehungen bei inhaltlicher Gleich-Gültigkeit („Ausgeglichenheit“, „im Ziel einig,
nur im Weg verschieden“) zu sehen. Das ethisch entscheidende Bindeglied zwischen
der biblischen und unserer Geschichte sind aber die unabgegoltenen biblischen
Verheißungen von einem neuen Himmel und einer neuen Erde, und „Gottes Hütte
wird bei den Menschen sein […], und sie alle werden sein Volk und er wird ihrer
aller Gott sein, und abwischen wird er alle Tränen von ihren Augen, und der Tod
wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn
das Erste ist vergangen“ (Offenb. Joh. 21,3-4).
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