Kleine theologische Enzyklopädie, die Bibel
Die Bibel (von griech. biblos = Buch) ist eine Sammlung verschiedenster Texte aus
dem Zeitraum vom 13. vorchristl[ichen] bis zum 2. nachchristl[ichen] Jahrh. (in ihr
verarbeitete einzelne Traditionen können auch in noch ältere Zeiten zurückreichen).
Als vermutlich ältester Text gilt das Mirjam-Lied, 2. Mose 15,21: „Singt dem Herrn,
denn hoch erhob er sich, Roß und Reiter hat er ins Meer gestürzt“ (Triumphlied nach
der Befreiung der Kinder Israels aus der ägyptischen Sklaverei) ca. 1220 v. Chr. Einer
der spätesten Texte ist vielleicht der 2. Petrusbrief aus der 1. Hälfte des 2. Jh. nach
Chr.
Literarisch finden sich in der Bibel eine kaum übersehbare Vielzahl von Gattungen:
z.B. Einzelsprüche, Spruchsammlungen, Einzelsagen, Sagensammlungen, Märchen,
Lieder, Gebete, Bekenntnisformeln, Gesetzessammlungen, Geschichtsdokumente (im
Sinne historischer Quellen), Geschichtserzählungen (im Sinne theologischer
Zeugnisse), Redekompositionen, Evangelien (die eine eigene literarische Gattung
darstellen, für die es sonst keine literarischen Vergleiche gibt), Briefe an einzelne und
an Gemeinden, Chroniken, Genealogien, Predigten usw.
Fast ausnahmslos (eigentlich nur mit Ausnahme der neutestamentlichen Briefe)
beruhen die biblischen Texte auf einer vorausgegangenen, oft jahrhundertelangen
mündlichen Überlieferung. Die schriftlichen Fassungen, die uns vorliegen, sind in der
Regel späte Endprodukte lange vorhergehender Traditionen. D.h.: die biblischen
Schriftsteller sind in der Regel nicht „Verfasser“ der unter ihrem Namen laufenden
Texte, sondern Sammler und meist nur Endredaktoren von auch ihnen schon
vorhergehenden Sammlungen; allerdings ist Redaktion auch immer Interpretation,
so daß die uns vorliegenden Texte die Theologie der (meist unbekannten)
Endredaktoren ist (z.B. „Matthäus“, „Markus“ usw.). – Der hier geschilderte
Tatbestand macht heute die sog. redaktionsgeschichtliche Forschung zu einem der
wichtigsten Forschungszweige in der historischen Bibelanalyse: vom uns
vorliegenden Text wird der Weg der einzelnen Textteile zurückverfolgt, soweit es
geht. Man erkennt dabei die früheren anderen Zusammenhänge der Einzeltexte, die
ihnen vielfach einen anderen Sinn verliehen als den, den sie im heutigen biblischen
Zusammenhang haben. Die Verfolgung von Sinnverschiebung und
Bedeutungsänderung von Texten wirft die wichtige und schwere Frage auf, welche
der möglichen Bedeutungen eines Textes die für uns theologisch relevante ist: die
biblische?, die älteste?, die Bedeutung während irgend eines Zwischenstadiums der
Überlieferung? Oder ist der Überlieferungsprozeß als solcher und ist die Tatsache
permanenter Sinnverschiebungen einer Aussage das theologisch Relevante?
Die mündliche Überlieferungsphase darf nicht als inhaltlich oder historisch weniger
zuverlässig beurteilt werden. Es handelt sich dabei um die in der Antike
vorherrschende Überlieferungsweise, die heute als z.T. unvergleichlich zuverlässig
angesehen wird. Denn zum Zweck der mündlichen Überlieferung wurde ein festes,
sehr genau funktionierendes Formel- und Sprachmaterial entwickelt, das die
Tradenten sich darum leicht einprägen konnten und das für die Empfänger der
Tradition eines der Kennzeichen für Glaubwürdigkeit einer Überlieferung war. – Die
Erforschung der festgeprägten Formen der Überlieferung wird von der sog.
formkritischen oder gattungsgeschichtlichen Arbeit betrieben. Sie bildet neben der
überlieferungsgeschichtlichen Arbeit einen zweiten wichtigen Teil der historischen
Bibelanalyse und muß von jedem exegetisch Arbeitenden gekannt werden
(Hauptwerke der gattungsgeschichtlichen Forschung zum NT: R[udolf] Bultmann,
Die Geschichte der synoptischen Tradition, 1921, 41955; M[artin] Dibelius, Die
Formgeschichte des Evangeliums, 1919, 31959; K[arl] L[udwig] Schmidt, Der Rahmen
der Geschichte Jesu 1919).
Nach der mündlichen Redaktionsphase haben viele Textteile aber auch schon einen
Zeitraum schriftlicher Überlieferung hinter sich, ehe sie in die uns vorliegenden
Bücher hineingesammelt wurden. In dieser schriftlichen Vorform werden sie heute
als „Quellen“ rekonstruiert, die in die vorliegende Bibelfassung ganz oder z.T.
Eingang gefunden haben sollen. Für die 3 ersten Evangelien z.B. nimmt man heute
drei und mehr „Quellen“ oder schriftlich vorhergehende Traditionsschichten an,
ebenso z.B. für die fünf Bücher Mose am Anfang der Bibel. Keine dieser „Quellen“'
sind bisher irgendwo gefunden worden, sie sind lediglich Annahmen und
Konstruktionen, resp. Rekonstruktionen der Wissenschaft. Diese Arbeit wird in dem
Teil der historischen Bibelanalyse getan, den man Quellen- oder Literarkritik nennt.
Auch hiervon muß jeder wissen, der sich wissenschaftlich mit der Bibel beschäftigt,
denn in diesen „Quellen“ sind z.T. sehr ausgeprägte eigenständige Theologien und
historische Kontexte zu entdecken, die nicht mit denen der biblischen Endredaktoren
identisch [sind], denn sie stammen aus ganz verschiedenen Zeiten und
Glaubenssituationen der Geschichte Israels oder der christlichen Gemeinde, auch
geographisch und gesellschaftlich aus sehr verschiedenen Bereichen. Auch hier
erhebt sich die schwere Frage, an welcher der Theologien, die vor der Theologie der
Endredaktoren liegen, wir uns heute zu orientieren haben.
Wir haben bis hierher von der Entwicklungsgeschichte einzelner biblischer Schriften
(Evangelien, 5 Bücher Mose usw.) gesprochen. Die Bibel selbst ist aber ebenfalls
Ergebnis eines geschichtlich Wachstumsprozesses.
In ihren zwei Hauptteilen – sog. „Altes“ Testament (besser: Hebräische Bibel) und sog.
„Neues“ Testament – entstammt sie dem 2. Jh. nach Chr. und ist sie nur die Bibel der
Christen, nicht auch der Juden. „Die Bibel“ der Juden und aller im NT zu Worte
kommenden Christen ist allein die Hebräische Bibel, denn zur n[eu]t[estament]lichen
Zeit gab es noch kein Neues Testament.
Das NT entsteht als Sammlung der in diesem Bibelteil vorliegenden Schriften zur
gleichen Zeit und in dem gleichen Zusammenhang der Kanonisierung wie die Bibel
als ganze. D.h. „die Bibel“ der Christen ist nicht etwa das Ergebnis einer
Zusammenfügung zweier unabhängig voneinander schon existierender
Literatureinheiten. Sonden mit der Entstehung eines „NT“ zugleich entsteht eine aus
zwei Hauptteilen zusammengefügte Bibel der Christen. Diese Beobachtung ist
historisch und theologisch enorm wichtig: Es hat bei den Christen nie ein Neues
Testament apart, abseits oder neben dem Alten gegeben. Vielmehr ist die Entstehung
des NT und die Kanonisierung des AT zeitlich und inhaltlich ein und derselbe
Vorgang.
Die Bibel der Christen ist das Ergebnis des etwa in der Mitte des 2. Jh. sich
vollziehenden Kanonisierungsprozesses (Kanon, griech. = Richtschnur, Richtlinie).
Dieser Prozeß ist ein Auswahlprozeß: Aus der großen Vielzahl der in den christlichen
Gottesdiensten des 2. Jh. gebrauchten und in Gemeindeversammlungen gelesenen
und diskutierten Schriften werden bestimmte Schriften als maßgeblich und normativ
für das Verständnis des Christlichen ausgewählt. Der Vorgang setzt voraus: a) eine
innere Vielfältigkeit und Unbestimmtheit dessen, was eigentlich „christlich“ ist (in
Lehre und Handeln); es hat zu keiner früheren Zeit je ein einheitliches Gottes-,
Christus- und Kirchenverständnis gegeben, sondern nur viele einander fremde
Christentümer; möglicherweise gab es schon in der ersten Generation der
Auferstehungszeugen tiefe Verständnisdifferenzen zwischen solchen, die
Erscheinungen des Auferstandenen in Jerusalem, und anderen, die sie in Galiläa
erfahren haben (E. Lohmeyer). Jedenfalls schien es nach hundert Jahren
Christusglauben unabweisbar, Maßstäbe zu entwickeln für das, was „christlich“
heißen soll. b) Kanonisierung war aber euch ein Gebot äußerer Bedingungen: Die
Frage des christlich-jüdischen Verhältnisses war inhaltlich zu klären, denn noch gab
es viele Judenchristen, die zugleich den Synagogengottesdienst und den christlichen
Gemeindegottesdienst besuchten, die sich also als Juden verstanden, nur daß sie im
Unterschied zu anderen den Messias für gekommen hielten. Hier hat vielleicht auch
von jüdischer Seite eine Entweder-Oder-Frage eine Rolle mit gespielt, denn das
Judentum sammelte sich zu eben dieser Zeit zum zweiten Male zu einem
Befreiungskrieg gegen die römische Besatzung (sog. Bar-Kochba-Aufstand, 133-135
n. Chr.) und brauchte volle innere Sammlung für seinen Überlebenskampf; da die
Christen schon im Ersten Freiheitskrieg 66-70 n. Chr. sich als
Kriegsdienstverweigerer desolidarisiert hatten, mußte das Judentum jetzt auf eine
Entscheidung dem Christentum gegenüber drängen. Dies geschah zur gleichen Zeit,
wo man langsam auch damit begann, den Umfang der Schriften zu diskutieren, die
zur jüdischen Bibel gehören sollten. (Synode in Javne, 95 n. Chr.). – Andererseits
waren die christlichen Gemeinden innerlich sehr irritiert von der Wirkung der sog.
Gnosis innerhalb der Gemeinden, einer religiös-philosophischen Strömung, die einen
Mythos und ein Selbstverständnis besaß, die dem christlichen Glauben und der
christlichen Lebensweise zum Verwechseln ähnlich sahen. Auch hier waren
Maßstäbe zu entwickeln, um die christliche Identität zu formulieren in der
gegebenen wirren Vielfrontensituation des 2. Jh. Die Entstehung der Bibel hat mit
diesen Kämpfen um christliche Identität zu tun.
Wichtig ist, daß gleichzeitig mit der Bibelfixierung zwei andere Institutionen zur
Bewachung und Entscheidung strittiger Identitätsfragen, geschaffen wurden: 1. das
Glaubensbekenntnis als kurze Summe zum Auffinden des Rechtgläubigen innerhalb
der ja in sich auch noch sehr vielfältigen Bibel; 2. der sog. monarchische Episkopat,
d.h. die gemeindeunabhängige Bischofsfunktion mit dem Auftrag, im Streitfall das
zutreffende Verständnis für den Bereich jeweils einer Gemeinde zu entscheiden. –
Die Schaffung dieser beiden Seiteninstitutionen zur Bibelkanonisierung zeigt, daß
man einer inhaltlichen Klarheit und Eindeutigkeit der Bibel von Anfang an nicht
traute. Bereits mit ihrer Entstehung war die Bibel von einem kirchlichen Mißtrauen
umgeben.
Diese geschichtliche Beobachtung stellt uns vor die Frage nach der Autorität der Bibel
für Kirche und Theologie.
In der vorreformatorischen Kirche wird der Bibel hauptsächlich formale Autorität
zugesprochen, während mit der Reformation nach einer hauptsächlich materialen,
inhaltlichen Autorität gesucht wird.
Die die Entstehungsgeschichte der Bibel begleitenden Institutionen dienen dazu, ihre
innere Autorität von außen zu sichern gegen Mißverständnis und Mißbrauch.
Zunächst gilt die Bibel einfach als apostolisches Lehrbuch. Die Norm, unter der die
Bibelschriften aus der ur- und frühchristlichen Literatur ausgewählt wurden, war
vor allem die ihres apostolischen Ursprungs, d.h. die angenommene Verfasserschaft
von Jüngern und Aposteln Jesu für die zum NT gesammelten Bibelteile. Nach
unserer heutigen historischen Erkenntnis halten viele Schriften des NT dieser Norm
nicht stand; das „Apostolische“ ist darum nicht als historische Kategorie (im Sinne
der frühesten Schriften), sondern als eine Zeugnis- und Sachkategorie zu betrachten;
es muß sich inhaltlich vor allem darin ausweisen, ob und daß in diesen Schriften
Jesus Christus als der von den Toten auferstandene „Herr“ (kyrios) bezeugt wird;
auch dies ist keineswegs in allen n[eu]t[estament]lichen Schriften gleich zentral und
gleich deutlich der Fall (problematisch z.B. im Jakobusbrief, dem u.a. darum Luther
die Zugehörigkeit zum biblischen Kanon bestritten hat).
Inhaltlich wird die Würde der Bibel hauptsächlich darin gesehen, daß sie ältester Teil
der kirchlichen Tradition ist; d.h. aber: Es wird nicht unterschieden zwischen Bibel
und kirchlicher Lehre, und so kann auch die Bibel der kirchlichen Lehre nicht als
Norm gegenüberstehen; sie gehört zur kirchlichen Tradition und unterliegt wie diese
der Auslegung des Lehramtes. Nur als vom Lehramt abhängige, normierte Norm hat
sie ihrerseits Normencharakter, sie gilt als norma normata. Hier wird die Bibel
weniger nach ihrem gegenständlichen, göttlichen Gehalt als nach ihrer Entstehung
innerhalb der geschichtlichen Entwicklung der Kirche gewürdigt.
Die praktische Bedeutung der Bibel in der vorreformatorischen Phase beruht auf
ihrem Gebrauch als Gesetzbuch, in dem vor allem die sittlichen Vorschriften des
Beispiels Jesu der Gemeinde und den einzelnen Christen vorgelegt sind. Im
Mittelalter werden ihr universale Programme der Weltgestaltung oder – bei den
Protestbewegungen des M[ittel]a[lters] (z.B. Waldenser, Hussiten usw.) –
Weltveränderung entnommen. Zugleich faßt man die Bibel als Geschichtsbuch auf,
in dem der Lauf der Heilsgeschichte von der Weltschöpfung bis zum Weltende in
ihren Stadien und Ökonomien vorgezeichnet ist (z.B. Joachim von Fiores Lehre vom
„Dritten Reich“ des Geistes nach dem ersten Reich des Vaters und dem zweiten
Reich des Sohnes, ca. 1130-1202).
Die Reformatoren verwandeln die formale, von außen gestützte Autorität der Bibel zu
einer inneren materialen. Die Bibel hat nun Autorität nicht mehr durch kirchliches
Lehramt und Tradition, sondern nur als Sachautorität, d.h. nur im Sinne einer
Autorität, die sich selbst imponieren, eindrucksvoll machen muß aus der
einleuchtenden Kraft ihres Inhalts. Dies bedeutet zunächst zweifellos eine
Relativierung der Autorität der Bibel, denn sie gewinnt Autorität nun nur noch in
actu, sofern aus ihr die Botschaft von Gott, seinem Handeln und seinem Willen gehört
wird. Daß dies geschieht, ist nicht mehr von vornherein vorauszusetzen; es gibt keine
Autorität mehr, die die Wahrheit des biblischen Wortlauts, der Texte und
Buchstaben von außen garantieren würde. Nicht der Wortlaut als solcher, sondern
das „Sprechen“ des mit dem Wortlaut gemeinten Sinnes ist das Autoritätsereignis.
Nicht das „Buch“, sondern des aktuelle Verkündigtwerden des Buches schafft ihm
Autorität; in theologischer Formelsprache ausgedrückt: Das Wort wird an die
Ereignung des Geistes gebunden, aber Kriterium einer notwendigen Scheidung der
Geister ist die Bindung des Geistes an das Wort (Zirkel von Buchstabe und Geist).
Wird so die Autorität der Bibel relativiert, so wird sie gegenüber der
vorreformatorischen Anschauung andererseits im gleichen Moment verstärkt. Weil
ihre Autorität nicht mehr Buchstaben-, sondern Sachautorität ist, wird die Bibel jetzt
aus einer norma normata zu einer norma normans, d.h: Das Ereignis des „Sprechens“
der Bibel von Gott ist jeder anderen Autorität in Kirche, Welt und Theologie bei
weitem überlegen, überlegen auch aller anderen christlichen Tradition. Dies Ereignis,
wann und wo immer es geschieht, ist nach evangelischem Verständnis die einzige
und alleinige Autorität.
Dies Ereignis ist nirgends faßbar. Darum ist die Autorität der Bibel gerade nur eine
faktische, keine irgendwie juristisch oder dogmatisch fixierbare Autorität. Die
Anerkennung dieser Autorität besteht allein in Erwartung, daß solche Ereignisse, da
sie schon einmal oder öfter und immer wieder geschehen sind, auch wieder
geschehen können und, wenn Gott will, geschehen werden. Die praktische Autorität
der Bibel besteht im Protestantismus in nichts anderem als in dieser Hoffnung und
Erwartung. Praktiziert wird diese Hoffnung 1. in stetigem aktuellem Auslegen und
Verkündigen der Bibel, nicht etwa in der Ableitung eines raum- und zeitlosen
Gedanken- oder Lehrsystems aus ihr. Praktiziert wird diese Hoffnung aber 2. auch
darin, daß solche Hoffnung auf Erklingen der lebendigen Stimme Gottes (viva vox
evangelii) exklusiv auf die Bibel gerichtet wird, nicht auf andere Bücher, Texte,
Buchstaben. Allerdings ist dies eine praktische Exklusivität, die man der Bibel
einräumt, keine theoretische. Theoretisch ist nicht ausgeschlossen, daß nicht die
lebendige Stimme Gottes sich auch von anderswo her als aus der Verkündigung der
Bibel vernehmen lassen könnte. Das Hören auf die Bibel ist praktisch nur die
Konsequenz aus der mit ihr bisher gemachten guten Erfahrung der Kirche und
allerdings auch die Konsequenz daraus, daß wir aus der Bibel hören, daß wir in ihr
nach Gottes belebendem Wort suchen sollen (z.B. Joh 5,39: „Suchet in der Schrift;
denn ihr meinet, ihr habt das ewige Leben darin; und sie ist’s, die von mir zeugt“).
Dort zu suchen, ist für die Kirche der Normalfall des Hörens auf Gott, der
Ausnahmefälle nicht ausschließt; aber jedes Hören eines Wortes Gottes von
anderswo her bleibt abhängig von seiner Wiedererkennbarkeit mit dem von der
Bibel gehörten Wort Gottes, denn ohne das können wir nicht gewiß sein, daß
anderswo Gehörtes wirklich das Wort des Gottes der Bibel ist oder nicht irgendeines
anderen Gottes. Ohne daß also die Bibel die Möglichkeit von anderswo her hörbarer
Worte Gottes ausschlösse, bleibt sie Vergewisserungsinstanz für die Wahrheit dieser
anderen Möglichkeit.
Es dürfte sich von selbst verstehen, daß mit dem Wechsel im Verständnis der
Autorität der Bibel sich auch die Instanz verändert, die im Streit- und Zweifelsfall
entscheidet. Luther hat der real existierenden christlichen Gemeinde als solcher –
und nicht einem von ihr abgehobenen Lehramt – das Recht zuerkannt, Lehre zu
richten (vgl. seine Schrift von 1523: Daß eine christliche Versammlung oder Gemeine
Recht und Macht habe, alle Lehre zu beurteilen und Lehrer zu berufen, ein- und
abzusetzen: Grund und Ursach aus der Schrift, WA 11, 408-416). Er wußte, daß er
praktisch damit eine Gemeinde überfordert, dennoch hat er dies Prinzip als das
biblisch allein mögliche, d.h. das allein seinem Verständnis von der Bibel und ihrer
Autorität entsprechende, verfochten. Es leuchtet seither über dem Protestantismus
als eine uns verpflichtende Utopie.
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