Kleine theologische Enzyklopädie, zum Begriff "Theologie"
Etymologisch: Theo-logia = das Zur-Sprache-Kommen Gottes. Von da aus gesehen
wäre Theologie eine Wissenschaft, die nicht nur erörtert, wie wir Gott zur Sprache
bringen können, sondern wie Gott zur menschlichen Sprache kommt.
Geschichtlich:
Ein vorchristlicher Begriff, vielleicht schon vor Plato gängig (d.h. vor 430/429 oder
428/427 v .Chr.). Bei Plato bezeichnet ‚Theologie’ die Mythen, die im Interesse
politischer Erziehung zu reinigen sind (z.B. sollen die Götter nicht mehr als Urheber
des Bösen gedacht werden, wie im Mythos). ‚Theologen’ gelten als Mythen- und
Gotteskünder und werden im Gegensatz gesehen zu Philosophen. – Allerdings
entsteht bald innerhalb der Philosophie ein Teilstück ‚Theologie’: philosophisches,
nicht mehr mythisches Reden vom Göttlichen.
In der Bibel kommt das Wort nicht vor. Sie zeigt weder Interesse an Mythen noch an
ihrer philosophischen Kritik noch am Philosophieren. – Die Tatsache, daß in
unserem Kulturkreis gerade die Beschäftigung mit der Bibel unter dem Titel
‚Theologie’ geschieht, ist ein geschichtlicher Widerspruch und Quelle vieler
Holzwege und Mißverständnisse, dennoch ein geschichtliches Erbe, das wir nicht
leicht abschütteln können. Es ist Symbol einer abendländischen Kultursynthese von
griechischem und hebräischem Denken, in der zu unserem Schaden das Hebräische
mehr verloren hat als das Griechische.
Auch noch in der frühen nachbiblischen Zeit (2. Jahrhundert n. Chr.) wird das Wort
kaum von Christen gebraucht. Das christliche Denken hat größeren Ehrgeiz, als
„wahre Philosophie“ zu erscheinen, denn als ‚Theologie’. Darin drückt sich der
Friedrich-Wilhelm Marquardt, Kleine theologische Enzyklopädie
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missionarische Wille des frühen Christentums aus, a) das Christentum zu
verteidigen vor den Normen der antiken Kultur und Bildung (verteidigen = griech.
apologein; die christlichen Denker des 2. Jahrhunderts nennt man darum die
‚Apologeten’), b) die antike Kultur durch Verwendung ihrer Kategorien für das
Christentum zu gewinnen. Die Zurückhaltung gegenüber dem Wort ‚Theologie’ hat
aber auch darin einen Grund, daß es im damaligen allgemeinen Sprachgebrauch zur
Bezeichnung heidnisch-religiöser Phänomene festgelegt war.
Mit dem ‚Sieg’ des Christentums im 4. nachchristl. Jahrh. wird nun der Begriff
‚Theologie’ für das Christentum annektiert, vor allem in anti-heidnischem Sinne
einer ‚wahren’ Theologie: kirchliche ‚Gotteskündigung’ gegen heidnische. – Wichtig
ist, daß ‚Th[eologie]’ in dieser Zeit zunächst vorwiegend ein Praxismoment hatte: das
Wort ‚theologisieren’ kann gleichbedeutend mit ‚Hymnen singen für Gott’
verwendet werden: ‚Th[eologie]’ ist da Lobgesang für Gott.
Erst nach dem 4. Jahrhundert bekommt der Begriff zunehmend einen theoretischen
Sinn, wesentlich mit dem Entstehen der Scholastik im frühen Mittelalter. (Scholastik:
das Bildungssystem der Wissenschaften in Schulen und Universitäten des
Mittelalters; Ablösung der Vorherrschaft von Rhetorik und Grammatik im antiken
Bildungssystem, Vorrang der Dialektik [= Logik] im neuen System: Weg vom
Sprachlichen zum Gedanklichen, vom mündlichen Wahrheit-Sagen zum
theoretischen Wahrheit-Finden, -Denken, -Erweisen.) Im Zuge dieser
gesamtwissenschaftlichen Entwicklung vertheoretisiert sich auch der Begriff
‚Th[eologie]’ von der doctrina fidei (= Lehre des Glaubens) zur summa fidei
(Summierung = Auf-den-Begriff-Bringen des Glaubens). Das hat zur Folge, daß es
jetzt zwei Arten von ‚Th[eologie]’ gibt: a) dasjenige Stück ‚Th[eologie]’, das innerhalb
der Philosophie traktiert wird, d.h. die philosophische Reflexion des Göttlichen; b)
die davon verschiedene und der Philosophie gegenüber selbständige ‚Th[eologie]’ =
dialektische (logische) Reflexion der christlichen Lehre. Seitdem sind zu
unterscheiden „philosophische“ Th[eologie] und „theologische“ Th[eologie].
(Beispiel einer „philosophischen“ Th[eologie] heute: W[ilhelm] Weischedel, Der Gott
der Philosophen. Grundlegung einer philosophischen Theologie im Zeitalter des
Nihilismus. 2 Bde., Darmstadt 1971).
„Th[eologie]“ in dem Sinne, der in der Scholastik herausgebildet wurde, gibt es nur
im Christentum, in keiner anderen Religion und auch nicht im Judentum. Nur im
christlichen Glauben gibt es vom Zentrum her einen Drang zum wissenschaftlichen
Verstehen seiner selbst. Dies hängt mit der Unbestimmtheit der „Sache“ christlicher
Theologie zusammen. Es gibt von Anfang an nicht ein bestimmtes Christentum,
sondern das eine Christentum in vielen, oft zueinander sich widersprüchlich
verhaltenden Erscheinungsweisen (z.B. ein Evangelium Jesu Christi in Gestalt von
vier z.T. stark voneinander abweichenden Evangelien, oder die Verkündigung des
Paulus von einer Rechtfertigung allein aus Glauben ohne Werke des Gesetzes im
Widerspruch zur Verkündigung des Jakobus, der lehrt, daß Glaube ohne Werke tot
sei). Systematisch heißt das: Die „Sache“ der christlichen Theologie ist nie nur Gott
selbst und sein Wort an die Menschen, sondern auch der Mensch Gottes und dessen
notwendig vielgestaltige Beantwortung des Wortes Gottes. Die spezifisch
geschichtliche, d.h. stets offene Zusammengehörigkeit von Gott und Mensch nach
biblischer Verkündigung nötigt den christlichen Glauben zu einem ständig neuen
Verstehen dieser Beziehung (z.B. zu der Frage, wer das Subjekt in dieser Beziehung
ist). Das für das Christentum Konstitutive kann nicht ein für allemal fixiert, es kann
nur in jeweils neuer Situation verkündigt werden. Dies weckt die nie beantwortete
Frage nach der Spannung von Identität und Aktualität des Christentums im Gang
seiner Geschichte. Damit die Aktualitätsfrage die Identitätsfrage nicht überrollen
kann, bleibt das Identitätsthema nicht der subjektiven Meinung und Entscheidung
überlassen (das halte ich für ‚christlich’), sondern Th[eologie] ist entwickelt worden
als eine gemeinsame, mehr als individuelle Bemühung um dies
Spannungsverhältnis. – Letzter Grund solcher Theologie erzeugenden Offenheit des
christlichen Selbstverständnisses liegt im christlichen Gottesverständnis, demzufolge
der ‚lebendige’ Gott nicht identifizierbar ist mit irgendeinem menschlichen Begriff
oder einer Idee von Gott, auch nicht mit einem depositum fidei (= einer kirchlich
autorisierten Sammlung von Lehren über Gott, Welt und Mensch), auch nicht mit
einem Deposit seines Willens in Gestalt eines fixen göttlichen ‚Gesetzes’ in Natur,
Geschichte, Moral, und schon gar nicht einem letzten Gegebenen (‚Grund’,
‚Ursprung’, prima causa der Dinge). Sofern Gott nicht im logischen Zusammenhang
der Welt steht, ist Reden von Gott ein logisches Problem, ergibt sich also auch die
Aufgabe einer Theologie als Wissenschaft aus dem christlichen Glauben selbst.
Die wissenschaftliche Fassung der Theologie im Mittelalter führt zur Unterwerfung
ihres Denkens unter die wissenschaftlichen Denkbedingungen dieser Epoche: der
sog. Metaphysik. Metaphysik ist entgegen einem alltagssprachlichen Gebrauch
dieses Wortes kein nur religiöses System, sondern ein umfassendes, hierarchisch
gegliedertes Ordnungs- und Erklärungssystem für alles, Diesseits und Jenseits
umfassendes Sein. Eine metaphysisch arbeitende Theologie ordnet Gott, Welt und
Mensch unter den gleichen Begriff des einen und gemeinsamen Seins (z.B. ‚Existenz’
Gottes) und setzt Gott an die Spitze einer Seins- und Wertpyramide, macht ihn damit
zu einem Teil des Ganzen und vermag ihn auf diese Weise auch logisch zu fassen.
Sofern dies aber eine Unterwerfung Gottes unter ein allgemeines und allgemein
denkbares Sein ist, ist es gleichbedeutend mit einer Auflösung des Gottesbegriffs
selbst, denn Gott, ernst genommen, ist nicht ein Teil des Seins, sondern sein
Schöpfer, und ist nicht höchster oder letzter Wert – Inbegriff alles Guten –, sondern
der Geber alles Guten.
Gegen die Unterwerfung der Theologie unter die Metaphysik hat Luther gekämpft
um die „Freiheit der Theologie von der Philosophie“' (vgl. W[ilhelm] Link, Das
Ringen Luthers um die Freiheit der Theologie von der Philosophie, München 21955).
Thema der Theologie ist jetzt nicht mehr die Existenz und das Wesen Gottes als Teil
und im Vergleich mit und im Verhältnis zu der übrigen Wirklichkeit, sondern: homo
reus et perditus et deus justificans vel salvator: der Mensch als Sünder und Verlorener
und Gott als Rechtfertiger und Retter (WA 40/II, 328). Damit wird ‚Th[eologie]’ zu
nichts anderem als der Auslegung des von der Bibel bezeugten Heilsgeschehens,
und das Reden von Gott konzentriert sich auf das, was Gott laut dieser Geschichte
ist. Nicht mehr die allgemein vermittelbare Denkbarkeit Gottes, sondern das „Wort“
Gottes wird zum Gegenstand der ‚Th[eologie]’.
In der weiteren Entwicklung kann die spannungsreiche Differenz zwischen einem
allgemeinen, philosophischen Gottesverständnis und dem theologischen Verständnis
des „Wortes“ Gottes nicht mehr festgehalten werden. Das Schwergewicht der
wissenschaftlichen Reflexion verlagert sich weiter zu dem das „Wort“ Gottes
hörenden Menschen hin. Spätestens mit dem 17. Jahrh. kommt es zu einer
Anthropologisierung im Ansatz von Theologie; Thema wird jetzt die Analyse des auf
Gott bezogenen Menschen, und „Gott“ kommt nur so vor, wie er im Horizont eines
menschlichen Selbstverständnisses und als dessen Funktion erscheinen kann; anders
gesagt: Gott und das Wort Gottes werden aus einem direkten Gegenstand
menschlicher Besinnung zu einem indirekten Gegenstand, er erscheint dem
Nachdenken nur noch innerhalb des Interesses der Menschen an sich selbst und an
ihrem Verhältnis zur Welt (also als Thema des „religiösen Menschen“). Durch solche
Anthropologisierung meinte Theologie, den neuen Wissenschaftsstandards nach dem
Ende der Metaphysik entsprechen zu können, d.h. nach dem Abstoßen der
Jenseitssphäre aus dem umfassenden Seins- und Erkenntniszusammenhang, der für
Antike und Mittelalter selbstverständlich war. Mit dieser Entwicklung fallen auch
„Religion“ und „Theologie“ auseinander: Der religiöse Mensch vermag die Welt
auch dann zu transzendieren, wenn die Wissenschaft vor der Denkbarkeit dieser
Möglichkeit kapitulieren muß. Praktisch scheint möglich, was theoretisch nicht mehr
möglich scheint. Dementsprechend hat Kant die Lehren des Christentums als für die
reine (= theoretische) Vernunft nicht mehr erschwingbar, aber für die praktische
Vernunft sehr wohl erschwinglich erklärt (I[mmanuel] Kant, Kritik der reinen
Vernunft, 1781. – Kritik der praktischen Vernunft, 1788. – Religion innerhalb der
Grenzen der bloßen Vernunft, 1793). Seitdem wurde ‚Th[eologie]’
wissenschaftstheoretisch dem Bereich der praktischen Vernunft, und im 19. Jh.
speziell dem größeren Problembereich der Ethik zugeordnet (D[aniel] E[rnst]
F[riedrich] Schleiermacher, Der christliche Glaube I, § 2). Gott galt nicht mehr für das
Weltwissen als relevant, sondern nur noch für die Orientierung des Lebens und
Handelns in der Welt.
Wir haben bis hierher folgendes Gefälle im Verständnis dessen was Gegenstand der
Theologie ist, beobachtet: 1. Denken Gottes, 2. Nachdenken des Wortes Gottes, 3.
Reden von Gott, wie er im Horizont des religiösen Menschen vorkommt, 4. Reden
von Gott, wie er im Horizont des weltlich handelnden Menschen vorkommt. Es
handelt sich hier deutlich um ein Gefälle von Relativierungen der theologischen
Aufgabe hinsichtlich Gottes selbst: ein Gefälle von Relationen, Beziehungen, aus
denen heraus es allein sinnvoll scheinen kann, überhaupt von Gott zu reden. Dieser
Prozeß der Relativierungen kulminiert im 19. u. 20.Jh. in der Historisierung von Gott
und Glaube, d.h. man tritt auch in der Theologie in eine historische Distanz zu Gott
und Glaube, behandelt sie nicht mehr Interesse eines Redens von Gott, sondern nur
noch im Interesse eines objektivierenden Verstehens der religiösen Traditionen.
Spätestens seit dem 18. Jh. wird z.B. die Bibel aus einem Zeugnis, das dem
Wissenschaftler Möglichkeiten erschließt, selbst von Gott zu reden, zuerst zu einer
historischen Quelle für religiöse Geschichten und Gedanken der Vergangenheit,
dann zu einem selbst nur noch historischen Dokument.
Seither hat sich Theologie in zwei Arbeitszweige gespalten, die in Ansatz und
Absicht grundverschieden voneinander scheinen: in a) die historische Theologie; sie
untersucht mit den objektivierenden Methoden der modernen Geisteswissenschaften
sämtliche Überlieferungen des Christentums (Bibel, Dogmen, Institutionen, Riten
usw.), ordnet sie den allgemeinen Daseinsphänomenen zu und interpretiert sie von
da aus, d.h. spezifisch historisch, nicht spezifisch theologisch. Als theologische
Wissenschaft ist die historische Theologie nur noch erkennbar, soweit sie Erfolg hat
bei ihrem Bemühen, etwas historisch Spezifisches, d.h. historisch Verschiedenes von
vergleichbaren anderen Phänomenen dingfest machen zu können; dabei steht sie in
der Gefahr, das historisch Spezifische ohne Umschweife als theologisch Spezifisches
zu deuten. – b) Davon verschieden arbeitet die dogmatische Theologie. Sie steht der
Tradition des Begriffs ‚Th[eologie]’ näher und erfüllt deutlicher die Erwartungen, die
man alltagssprachlich ‚eigentlich’ an ‚Th[eologie]’ richtet, insofern sie sich darum
bemüht, durch alle historischen Relativierungen hindurch, hinter die heute kein
Theologe in unserem Kulturkreis zurückkann, Gegenstände der Theologie aus
unmittelbarem theoretischen und praktischen Interesse an ihnen zurückzugewinnen.
Diese heutige methodische Zweiteilung der Theologie ist für jeden Studenten
irritierend und stellt uns vor die Aufgabe, sie zu überwinden, d.h.: von Gott zugleich
im Abstand der historischen Relativität seiner biblischen und kirchlichen Bezeugung
und zugleich in der Direktheit seiner unmittelbaren heutigen Bedeutung sprechen zu
lernen – einer Bedeutung, die nicht nur dem Interesse an Traditionswahrung
entspricht, sondern erst recht dem Interesse an unserem Leben, und ich füge nach
Auschwitz hinzu: an dem Überleben der Gattung Mensch.
Literatur: G[erhard] Ebeling, Art. Theologie I. Begriffsgeschichtlich, in: 3RGG VI, 754-
769.
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