Kleine theologische Enzyklopädie, die Kirchengeschichte
Kirchengeschichte ist die wissenschaftliche Erforschung und Darstellung der
Geschichte der christlichen Kirchen und Gruppen in ihrer weltgeschichtlichen und
geistesgeschichtlichen Abhängigkeit und Wirkung von der Zeit Jesu von Nazareth
bis zu unserer Gegenwart. Sie erforscht und stellt dar in gleicher Weise die
Geschichte der kirchlichen Institutionen und Lehrbildungen wie die Geschichte
hervorragender Einzelner. Zur Kirchengeschichte gehört auch die Geschichte der
kirchlichen Häresien und Ketzereien und solcher Erscheinungen, die als
Säkularisierungen kirchlicher Anschauungen oder Verhaltensweisen zu verstehen
sind.
Eine Teildisziplin der Kirchengeschichte ist die „Dogmengeschichte“: die innere
und äußere Geschichte der kirchlichen Lehrbildungen überhaupt und der amtlich
gewordenen im besonderen von der Zeit des NT bis zur Reformationszeit. (Die
Weiterentwicklungen der theologischen Lehre von der Reformationszeit bis heute
werden in einer anderen theologischen Disziplin bearbeitet, die nicht mehr unter
dem Dach der Kirchengeschichte, sondern unter dem der Systematischen
Theologie geschieht: der sog. Theologiegeschichte – eine nicht sehr einleuchtende
Disziplinen- und Fächerverteilung.)
Das Studium der Kirchengeschichte könnte einen Anfänger wegen der
Unübersehbarkeit eines Stoffes von zweitausend Jahren entmutigen und zu einer
Abwehrhaltung bringen mit dem Argument: hier werde nur ein Bildungsbedürfnis
gepflegt ohne praktischen und theoretischen Nutzen. Dazu ist folgendes zu sagen:
1. Wir sind heute praktisch motiviert, unser Christsein im ökumenischen Horizont
und mit ökumenischem Bewußtsein zu leben. Die Kirchengeschichte ist ein
Kompendium ökumenischen Wissens, und zwar nicht nur im konfessionskundlichen
Sinn (d.h. im Sinn eines Kenntnisgewinns über die Herausbildung der verschiedenen
christlichen Kirchen, Konfessionen und Denominationen. „Kirchen“: z.B. orthodoxe,
römisch-katholische, evangelische; „Konfessionen“: z.B. lutherisch, reformiert,
uniert; „Denominationen“: z.B. presbyterianisch, baptistisch, mennonitisch usw. –
„Kirchen“ sind geschichtlich, dogmatisch, organisatorisch, kulturell voneinander
geschiedene Einheiten. „Konfessionen“ sind nach z.T. historisch überholten, z.T.
noch wirksamen systematisch theologischen Differenzen unterschiedene Einheiten
prinzipiell zusammengehörender Kirchen. „Denominationen“ sind im wesentlichen
die in der Geschichte des westlichen Calvinismus sich entwickelnden, meist
theologisch-praktischen – teils kirchenorganisatorischen, teils ethischen, teils partiell
theologischen, teils regionalen – Verselbstständigungen.) Das Studium der
Kirchengeschichte kann uns über das historische Verständnis des
Auseinandergehens und der inneren Motive der Verselbständigungen der Kirchen
und Gruppen hinaus vor allem die Formen ursprünglicher Einheit und darum die
Chancen künftiger Einheit der Christen erkennen helfen.
Außerdem kann man, banal und trotzdem richtig, auch sagen: Kenntnis der
Kirchengeschichte ist in der klein gewordenen Welt von heute ein unentbehrlicher
Reiseführer, z.B. für die Altstadt von Jerusalem.
2. Es gibt kaum ein Phänomen der Kirchengeschichte, das heute ganz
verschwunden, vergangen oder „überholt“ wäre. Die Kirchen und Gruppen der
Gegenwart wiederholen und repräsentieren in sich und im Verhältnis zueinander
fast die gesamte Kirchengeschichte. Es gibt darum kaum eine so hilfreiche
Möglichkeit zu verstehen, was „Kirche“ ist, wie ein anhaltendes Interesse an ihrer
Geschichte. Die Beschäftigung mit der Kirchengeschichte hilft uns, die Kirche der
Gegenwart in einer nützlichen und ermutigenden Weise zu relativieren, d.h. in
Beziehung zu setzen zu ihrem Gewordensein und so: sie zu „verstehen“, d.h.
Maßstäbe zu gewinnen für das, was uns an ihrem heutigen Erscheinungsbild
wichtig, was weniger wichtig sein kann. Anders gesagt: Kirchengeschichte hilft
uns, uns über den Wesens- und Autoritätsanspruch, der von der Kirche ausgeht,
wissend und unterscheidend zu orientieren. Man könnte in diesem Sinne eine
Kenntnis der Kirchengeschichte zugleich als ein antiautoritäres Hilfsmittel zu
Befreiung von unbegriffenen Ansprüchen und als Mittel zu einer bewußten
Selbstbestimmung im eigenen Verhältnis zur Kirche ansehen.
3. Der Gewinn der Kirchengeschichte erstreckt sich aber nicht nur auf eine
mögliche ökumenische und kirchliche Orientierung, sondern ebenso auf eine
Orientierung im Verhältnis zur theologischen Lehre des Christentums. Kenntnis der
Kirchengeschichte ermöglicht uns nämlich, klassische Lehrformen der Kirche
(etwa die Dogmen über Christus oder Gott, über Freiheit und Unfreiheit beim
Christwerden usw.) bestimmten Situationen der Kirche und ihrer Institutionen
zuzuordnen und auf diese Weise Verständnis und Beurteilungsmöglichkeiten zu
gewinnen, die ein rein systematisches Verstehen ergänzen, aber auch modifizieren
können. Durch „Historisierung“ gewinnt die Frage heutiger Geltung kirchlicher
Lehrtraditionen zusätzliche Entscheidungshilfen. Überdies kann die historische
Zuordnung einer alten Lehre zu dem geschichtlichen Komplex ihres Entstehens eine
lernpsychologisch wichtige Dimension der Veranschaulichung von sonst oft zu
abstrakt bleibenden systematischen Lehrformeln einbringen. (M. Luthers
Rechtfertigungslehre z.B. – seine These, daß Gott uns seine Gemeinschaft gewährt
allein insofern wir ihm trauen, nicht insofern wir tätig seinen Ansprüchen genügen –
ist für uns abstrakt-anthropologisch immer schwerer zu fassen; sie gewinnt an
Verstehbarkeit, wenn man sie sich an den geschichtlichen Zusammenhängen
veranschaulicht, für die Luther sie entwickelt hat, z.B. gegenüber einer
spätmittelalterlichen religiösen Leistungs- und Bußpraxis oder gegenüber
bestimmten Elementen der Revolutionsideologien seiner Zeit oder gegenüber dem
Unterwerfungsanspruch kirchlicher Autorität. Wieder ganz anders erscheint Luthers
Lehre, wenn man seine Berufung auf Paulus überprüft anhand der Geschichte, in
bezug auf die Paulus seine Rechtfertigungsbotschaft formuliert hat: das Verhältnis
von Juden und Nichtjuden zueinander; verschiedener historischer Kontext einer
Lehre ergibt verschiedenen Sinn.) Die Erkenntnis verschiedener Sinnmöglichkeiten
einer Lehre verweist uns aber an unser eigenes Verstehen, Begreifen und
Formulieren der christlichen Lehre. Das aber heißt: historische Kenntnis spielt uns
eigene theologische Autorität zu und besitzt auch darin eine uns befreiende Wirkung
– und zwar nicht über die Kategorie des geschichtlich Überholten, sondern über die
Erkenntnis des geschichtlich Verschiedenen.
***
Der Ausdruck Kirchengeschichte setzt ein gewisses Verständnis dessen voraus,
was der Ausdruck „Kirche“ und was „Geschichte“ in diesem Zusammenhang
meinen.
Die Gegenstände der Kirchengeschichte ergeben sich aus dem
Spannungsverhältnis in dem eine christliche Kirche stets existiert: zwischen
weltlicher, soziologisch, psychologisch usw. zu beschreibender Institution und den
inneren, kategorial nicht bestimmbaren Ereignissen, denen die Institutionen sowohl
geschichtlich entstammen als auch grundsätzlich dienen (vgl. J[ean]-L[ouis] Leuba,
Institution und Ereignis. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Arten von
Gottes Wirken nach dem Neuen Testament, Göttingen 1957, dort vor allem 3. Teil).
Kirchengeschichte ist darum zugleich immer Institutionsgeschichte wie auch
Geschichte geistlicher Ereignisse, Erfahrungen, Wirkungen. Beide Aspekte sind
jedoch nicht voneinander zu trennen. Die kirchlichen Institutionen verdanken sich
geistlichen Ereignissen (Taufe und Abendmahl z.B. ihrem Vorkommen im Leben
Jesu von Nazareth. Die Gemeinschaftsbildung der Berufung von Mitläufern durch
Jesus. Die Ämter des Urchristentums den Geistwirkungen in den frühen
Gemeinden). Umgekehrt dienen die Institutionen nicht einfach nur der Bewahrung
der Erinnerung an vergangene Ereignisse, sondern der Identifizierbarkeit neuer
Ereignisse in der Kirche (z.B. wiederholt die Gemeinde das letzte Mahl Jesu
einerseits, „so oft ihr’s trinkt, zu meinem Gedächtnis“, andererseits verkündigt sie
damit den Tod des Herrn, „bis er kommt“: 1. Kor 11,24-26; die Eucharistie hat einen
zugleich rückwärts, in die Vergangenheit Jesu gerichteten und einen vorwärts, in die
Zukunft Jesu gerichteten Sinn. Ständige Wiederholung – das Institutionelle und
Geregelte der Abendmahlsfeier – dient [dazu,] die Vergangenheit und Zukunft im
Jetzt aneinander zu binden und so zu gewährleisten, daß der morgen erwartete Jesus
Christus derselbe ist wie der gestern Gekommene und daß also die Gemeinde nicht
„auf einen anderen wartet“ als den ihr geschichtlich Bekannten. Oder – anderes
Beispiel – der Identität der Verkündigung dient die feste Einrichtung der Verlesung
der Briefe des Paulus in den Gottesdiensten seiner Gemeinden. Dies hilft den
Gemeinden dazu, bei jeder neuen Predigt eines anderen Predigers aufpassen zu
können, daß „kein anderes Evangelium“ verbreitet wird als das, das sie von Paulus
und das Paulus von der Offenbarung Christi empfangen haben, vgl. z.B. Ga1 1,6-12).
Erste Gestalten solcher Institutionen sind z.B. Taufe, Bekenntnisse, Lieder,
Gottesdienste, Abendmahl, Gemeindezucht, gemeinsames Leben, Symbole der
zwischengemeindlichen Beziehungen, vielfältige Ämter, Mission usw. –
Die Frage ist, wo wir zum erstenmal in der Geschichte der Kirche auf so etwas wie
ein historisches Bewußtsein ihrer selbst stoßen: Denn von vornherein, d.h. im
Glauben des Urchristentums, besitzt ein historisches Selbstverständnis der Kirche
kaum eine Voraussetzung. Jesus Christus hatte die Nähe des Reiches Gottes
verkündigt (Mk 1,15), und dies wurde von Anfang an als gleichbedeutend mit einer
„Erfüllung der Zeit“ ausgelegt (vgl. z.B. Gal 4,4); sie wurde als so begrenzt
verstanden, daß Paulus mit dem Eintritt des Reiches noch zu Lebzeiten seiner
Generation rechnete (z.B. 1. Thes 4,15), und auch noch die zweite und dritte
christliche Generation verstand sich im Horizont der Erwartung: „Kindlein, es ist die
letzte Stunde“ (1. Joh 2,18); im theologischen Jargon sprechen wir vom
„eschatologischen“ Selbstverständnis des frühen Christentums (Eschatologie: Lehre
vom Letzten). Ein historisches Interesse scheint ausgeschlossen, wo der Blick nur
noch nach vorne auf ein Ende der Geschichte gerichtet wird.
Kann man die zwischen ca. 60 und 100 n. Chr. entstandenen Evangelien als Ausdruck
eines frühen kirchengeschichtlichen Interesses verstehen? Dies wird vor allem vom
Evangelisten Lukas angenommen. a) Er versieht sein Evangelium mit einer
Einleitung, in der er erklärt, Nachrichten von Augenzeugen des Lebens Jesu
gesammelt zu haben und sie „der Reihenfolge“ nach, d.h. in bestimmter
Geschehensfolge darstellen zu wollen (Lk 1,1-4); b) er als Einziger hat sein
Evangelium fortgesetzt in einer Apostelgeschichte, so daß das sog. lukanische
Doppelwerk über Nachrichten aus dem Jesusleben hinausreicht bis zur Darstellung
der ersten Kirchengeschichte. Dennoch haben wir es bei L[u]k[as] sowenig wie
[bei] M[a]t[thäus], M[ar]k[us] und Joh[annes] mit dem Werk eines rückwärts
gerichteten historischen Interesses im modernen Sinne des Wortes zu tun. Auch das
Lukasevangelium dient der Wortverkündigung und Glaubensweckung, nicht der
historischen Dokumentation, enthält Verkündigungsmaterial, nicht historisches
Quellenmaterial. Allerdings zielt die Theologie des Lukas u.a. darauf ab, daß die
Kirche, für die er schreibt, sich als zugehörig zur politischen Welt begreifen lernt und
„eschatologische“ Weltenferne überwindet. Insofern zeigt L[u]k[as] eine womöglich
frühe Stufe eines Kampfes um ein historisches Selbstverständnis der Kirche, das ihr
zuvor nicht eigen war und von ihr erst gelernt werden mußte. So steht auch der
zweite Teil des Ausdrucks Kirchengeschichte (…„geschichte“) unter eigenen
Voraussetzungen und bedarf einer eigenen Besinnung.
Dazu ist noch ein weiteres, sehr grundsätzliches Besinnungsmoment wichtig. Das,
was wir in einem ja erst neuzeitlichen Sinn unter „Geschichte“ verstehen (im Sinne
von Historiographie), ist dem biblischen Glauben von seinem hebräischen Anfang
her der „Ort“ oder „Raum“ der Ereignung (des „Handelns“, der „Offenbarung“)
Gottes: a) Ort der Verkündigung seines Wortes, b) Ort der Begegnung von Israel und
den Völkern, resp. Juden und Christen, c) Wirkungsfeld der Vorsehung Gottes und
seiner Weltregierung. Die Bibel beider Testamente verlegt das, was man
„Heilsgeschehen“ nennt, nicht in himmlische Sphären, sondern auf die Erde, nicht in
den „Geist“ der Völker oder in die Seele der einzelnen, sondern in die
Weltgeschichte, auch nicht in die Natur, sondern in die Geschichte (dies sind drei
Näherbestimmungen zur Bezeichnung der Geschichte als „Ort“ der Ereignung
Gottes). D.h. Geschichte ist im biblischen Denken immer schon theologisch
qualifiziert, und zwar gerade die Welt- oder Profangeschichte (Heilsgeschichte
ereignet sich in keinem anderen Raum und in keiner anderen Zeit als inmitten der
„Profan“geschichte; damit hat die Bibel den alten religionsbildenden Gegensatz von
„heilig“ und „profan“ von vornherein aufgehoben; vgl. M[ircea] Eliade, Das Heilige
und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, [Hamburg 1957, Rowohlts deutsche
Enzyklopädie] 31). Allerdings wird „die Geschichte“ in biblischer Perspektive als
begrenzter Zeitraum aufgefaßt, und es wird mit ihrem Ende gerechnet. Und ferner
wird die Geschichte unter zwei Grund- und Wertkategorien erfahren, nämlich als
„alt“ und „neu“, aber so, daß alt und neu nicht als verschiedene, einander ablösende
Perioden, sondern als verschiedene Qualitäten der einen Geschichtserfahrung
angesehen werden.
Die Wahl der Geschichte als Ort der Ereignung Gottes schließt folgendes ein: a) Da
Geschichte nun einmal Raum der Vergänglichkeit, des Werdens und Vergehens, ist,
wird das Handeln Gottes prinzipiell geknüpft. an den Bereich der Erfahrung der
Relativität und des Wechsels des Daseins und nicht an Erfahrungsbereiche der Dauer
und des unvergänglichen und unveränderlichen Seins. Hier unterscheidet sich der
Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs (Namen sterblicher Menschen kennzeichnen
diesen Gott!) vom „Gott der Philosophen“ (diese legen Gott am „Sein“ und nicht an
der Geschichte aus, weil „Sein“ für sie der Begriff des Beständigen und Dauernden
ist). – b) Ist Geschichte Raum der Ereignung Gottes, schließt dies die Erfahrung
Gottes in einer schlechthin widerspruchsvollen Wirklichkeit ein, denn in der
Geschichte gibt es nichts Widerspruchsloses (wie vielleicht in der Welt des Geistes).
Handelt Gott in der Geschichte, handelt er in der Welt eines notorischen
Widerspruchs auch gegen Gott; von Jesus Christus heißt es gerade bei dem
geschichtsbewußten L[u]k[asevangelium], daß er von Gott „gesetzt“ ist zu einem
„Zeichen, dem widersprochen wird" (Lk 2,34). Die Widersprüchlichkeit des
Gottesgedankens, die wir oft als logisches Problem empfinden, rührt in Wahrheit her
von der Wahl der Geschichte zum Ort seines Handelns. Ebenso gilt: Wenn die Kirche
lernen muß, in der Geschichte zu leben (und darin Gott selbst zu folgen), dann heißt
das auch: Kirchengeschichte ist notwendig immer auch die Geschichte
wesentlicher, weil wesenhafter innerer und äußerer Widersprüche (innere
Widersprüche: z.B. Häresien, Ketzereien; äußere Widersprüche: z.B. Martyrien,
Säkularisationen usw.). – c) Geschichte ist immer Geschichte von geistigen,
politischen, gesellschaftlichen Mächten. Handelt Gott in ihr, gerät er in
Machtgegensätze; und hat die Kirche eine Geschichte, ist auch die
Kirchengeschichte unvermeidlich gezeichnet von Machtkämpfen. Als ein
heimliches Thema der Kirchengeschichte könnte man so das Thema „Kirche und
Macht“ bezeichnen. – d) Karl Marx hat alle bisherige Geschichte eine „Geschichte
von Klassenkämpfen“ genannt. Hat die Kirche eine Geschichte, ist sie auch darin
verflochten, und dann ist die Geschichte der Klassenkämpfe auch ein wesentlicher
Aspekt der Kirchengeschichte – allerdings ein bisher zu wenig bearbeiteter.
***
Es gibt einige klassische Werke, einer Kirchengeschichtsschreibung, von denen man
wenigstens von ferne einmal gehört haben sollte: a) zehn Bücher einer
Kirchengeschichte des Eusebius von Caesarea, der die Kirchengeschichte erzählt
bis in die Zeit der „Konstantinischen Wende“ (von blutiger Christenverfolgung bis
zu[r] Erhebung des Christentums zur „Staatsreligion“), also etwa bis 324. Eusebius
gilt als Vater der K[irchen]g[eschichts]schreibung und stellt die Kirchengeschichte
in Analogie zur spätrömischen Kaisergeschichte dar. „Held“ dieser Geschichte ist
Jesus Christus, darum beginnt Eusebius seine Darstellung in der inneren Geschichte,
die zwischen „Vater“ und „Sohn“ in der ewigen Trinität spielt. Die Kaiser stellt er als
„Nachfolger der Apostel“ dar, das Christenvolk als ein Volk neben anderen Völkern.
Ein „reines“ Christentum hat es nach Eusebs Darstellung nur bis zum 2. Jh. gegeben,
von da an verunreinigen Irrlehren das ursprüngliche Christentum immer mehr. So
entwickelt schon Eusebius ein sehr wirkungskräftiges Modell einer
K[irchen]g[eschichts]schreibung: Die Geschichte der Kirche ist die Geschichte eines
sich steigernden Abfalls der Kirche von ihrem reinen Ursprung. – b) Cassiodor (ca.
480-570). Seine Darstellung wirkt bis ins Mittelalter, ja bis in den Protestantismus des
17. Jh. hinein. Er stellt den Gang der Kirchengeschichte als Durchführung eines
göttlichen Geschichtsplans dar, den er analog zu den Visionen des biblischen
Danielbuches von vier Weltmonarchien entwickelt (vgl. Daniel 2). Dabei kommt er
zu der Theorie von einer translatio imperii, die Macht wird von einem Reich auf das
andere übertragen, zuletzt vom Römischen Weltreich auf die christliche Kirche
(Grundmodell der Ideologie des christlichen Abendlandes vom Heiligen Römischen
Reich deutscher Nation). Gleichzeitig kann er die Kirchengeschichte auch in
Analogie zum Schema der sechs Schöpfungstage darstellen und kommt so zu einem
Entwicklungsgedanken, der seinen klassischen, nicht mehr auf die
Kirchengeschichte beschränkten Ausdruck in G[otthold] E[phraim] Lessings
Schrift über die „Erziehung des Menschengeschlechts“ gefunden hat. – c) Eine
klassische protestantische K[irchen]g[eschichts]schreibung sind die sog.
Magdeburger Centurien des Matth[ias] Flacius Illyricus (1559-1574 verfaßte
„Centurien“: etwas schematisch nach den einzelnen Jahrhunderten dargestellt). Das
Werk ist aus neuen intensiven Quellenstudien entstanden, folgt aber dem Modell der
Verfallsgeschichte des Christentums, jetzt dargestellt mit starkem antirömischen
Affekt; im Grund schreibt er die Geschichte eines Antichristentums vom Anfang bis
zur höchsten kirchlichen Machtentfaltung und dann bis zur Herstellung der wahren
Kirche in ihrer Reinheit durch Luther. – d) Der Pietist Gottfr[ied] Arnold hat
1699/1700 ein berühmtes Werk „Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie“
veröffentlicht: „Unparteiisch“, sofern er seine Darstellung nur aus Schriften der
jeweiligen Zeitgenossen (und nicht z.B. aus Schriften ihrer Gegner oder ihrer
Wirkungsgeschichte und späteren Beurteilung) entwickelt; „unparteiisch“ auch,
sofern er nicht nur von Kirchenleuten, sondern gezielt auch von Ketzern aus ihren
eigenen Quellen berichtet und sie gleichberechtigt nebeneinander stellt; höchst
parteiisch allerdings mit einem Vorurteil zugunsten der Ketzer und zu ungunsten
der Kirche, das er sich aus der Erfahrung der Verfolgung der Pietisten durch die
Orthodoxen (mit Hilfe der Polizei!) in seiner eigenen Lebenszeit gewonnen hat.
Diese Beispiele einer K[irchen]g[eschichts]schreibung dienen uns nur dazu, uns die
Probleme der Darstellung von Geschichte auch im Falle der Kirchengeschichte
bewußt zu machen; Werturteile und Vorurteile sind in jeder solchen Darstellung
unvermeidlich, ebenso wie Versuche, theologische Perspektiven einer Darstellung zu
finden; unter diesem Gesichtspunkt jede K[irchen]g[eschichts]darstellung auch ein
Thema Systematischer Theologie.
***
Für gewöhnlich unterteilt man fünf Epochen der Kirchengeschichte.
I. Alte Kirche (oder Die Kirche in der Sklavenhaltergesellschaft)
Ausgewählte Einzelthemen: Mission und Ausbreitung des Christentums.
Christenverfolgungen. Entstehung des Mönchtums. Konstantinische Wende.
Dogmenbildung. Kirche in der Völkerwanderung. Aurelius Augustinus.
II. Mittelalterliche Kirchengeschichte (oder Die Kirche in der feudalistischen
Gesellschaft)
Scholastik und Kulturwirkung. Kreuzzüge. Papsttum und Kaisertum. Reform- und
Protestbewegungen.
III. Kirchengeschichte der Reformationszeit (oder Die Kirche im Frühkapitalismus)
Luther. Zwingli. Calvin. Geschichte der Ausbreitung der Reformation. Bauernkrieg
und Schmalkaldischer Krieg. Ausbildung von Landeskirchentümern.
Gegenreformation (Konzil von Trient).
IV. Kirchengeschichte der „Neuzeit“ (oder Die Kirche in der Zeit von Manufaktur
und Industrie)
Dreißigjähriger Krieg und die Folgen. Protestantische Orthodoxie und Pietismus.
Kirche und Aufklärung und Revolutionen. Missionsgeschichte im Zeitalter des
Kolonialismus. Kirche und Judenemanzipation. „Union“ von Lutheranern und
Reformierten. Kirche und „soziale Frage“. Protestantismus/Preußen/Deutsches
Reich.
V. Kirchengeschichte des 20. Jahrh. (oder Kirche im Zeitalter des Spätkapitalismus,
Sozialismus und der Weltkriege)
Ökumene. Kirche und Krieg. Dialektische Theologie und Kirche. Kirchenkampf
während des Nationalsozialismus. Kirche im gespaltenen Europa: Kirche und
Kommunismus. Nordamerikanische, afrikanische, südamerikanische, asiatische
Kirchengeschichte.
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